Julius Sonntag berichtet vom PK-Teamtag
Das PK-Team erkundet Industriearchitektur im Museumspark Rüdersdorf. Foto: Dr. Thomas Schad
Rüdersdorf? Schon mal gehört. Ist das nicht in Berlin, irgendwo am Rand? So etwas wie Berlin-Köpenick? Nein. Rüdersdorf gehört nicht zu Berlin. Der Ort ist eine amtsfreie Gemeinde im Landkreis Märkisch-Oderland in Brandenburg, grenzt aber direkt an die Hauptstadt. Rüdersdorf liegt rund 30 Kilometer östlich des Berliner Stadtzentrums, bei Berlin.
Muss man Rüdersdorf kennen? Als unser Chef uns informierte, dass uns der nächste Teamtag dorthin führen würde, klang das irgendwie kryptisch: „Wir besuchen alte Produktionsstätten, sehen wundersam anmutende Industriearchitektur, schauen in einen sehr aufgeräumten Tagebau, speisen im ehemaligen Bergbauamt und besuchen das einstige Kulturhaus der Bergarbeiter.“
Hatte er sich vielleicht verschrieben? Meinte er womöglich nicht Rüdersdorf, sondern das Ruhrgebiet? Oder die Lausitz? Vor zwei Jahren hatten wir einen Team-Ausflug ins Lausitzer Seenland unternommen und den Tagebau Welzow-Süd besucht (hier nachzulesen).
Dort konnte man sich das alles vorstellen, Industriearchitektur, Tagebaue, Bergarbeiter – aber in Rüdersdorf? Direkt bei Berlin?
Im Mittelpunkt unseres Ausflugs nach Rüdersdorf sollte, so hieß es weiter in der Ankündigung unseres Chefs, „die Gewinnung jenes Baustoffes“ stehen, „mit dem Berlin errichtet wurde, in der Gründerzeit wie in der Zeit des Umbaus der Stadt zur Reichshauptstadt Germania.“ Er musste also wichtig sein, dieser Ort am Rande Berlins. Einen Tempel sollte es dort auch geben, zumindest deutete darauf der Programmpunkt „Besuch der Akropolis von Rüdersdorf“ hin.
Die Akropolis von Rüdersdorf
Mehr oder weniger ahnungslos steigen wir am 17. September vor dem Portikus eines riesigen, antik anmutenden Gebäudes aus unserem Reisebus. Über dem Eingang steht in goldenen Lettern: Martin Andersen Nexö Haus. Nie gehört. Passt ja zu Rüdersdorf, denke ich. Martin Andersen Nexö, den heute wohl kaum noch jemand kennt, war in der DDR eine große Nummer. Der dänische Schriftsteller, der nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig in der Sowjetunion lebte und später in die DDR zog, wo er 1954 starb, gilt als wichtiger Vertreter der sogenannten Arbeiterliteratur.
Sehenswert von außen und innen: Das Martin Andersen Nexö Haus. Fotos: Julius Sonntag
In der DDR wurden Schulen, Jugendheime und öffentliche Plätze nach ihm benannt, sogar einen Martin-Andersen-Nexö-Kunstpreis gab es. Und eben das Kulturhaus Rüdersdorf, vor dem wir nun staunend stehen. Zum Glück sind wir nicht allein hier. Um uns von der Besonderheit dieses Ortes zu überzeugen und behutsam unsere Bildungslücken zu schließen, hat unser Chef einen Fachmann gebucht: Stephen Ruebsam, Geschäftsführer der Museums- und Kultur GmbH Rüdersdorf, „ein erfahrener Kenner von Kultur, Region und Tourismus“, wie es auf der Website heißt, der zusammen mit seinem Team daran arbeite, „allen Besucher*innen ein einmaliges Erlebnis in den Rüdersdorfer Kultur-/Industriedenkmälern zu verschaffen.“
Und genau das tut er. Ruebsam, ein großer, ernst und zugleich freundlich wirkender Mann, der beim Reden sehr lebhaft gestikuliert, weil er immerzu auf etwas Besonderes hinweisen, bemerkenswerte Details des Hauses zeigen möchte, steckt uns an mit seiner Begeisterung, beeindruckt uns mit seinem Fachwissen. Man merkt, dass er sich viele Jahre intensiv mit der Geschichte dieses Ortes, mit seiner spezifischen Aura beschäftigt hat.
Kennt sich aus im Kulturhaus: Stephen Ruebsam, Geschäftsführer der Museums- und Kultur GmbH Rüdersdorf. Fotos: Julius Sonntag
Eine Perle, nennt Ruebsam das Kulturhaus. Eigentlich dürfe man es zurzeit nicht betreten, weil es umfangreich saniert werden soll. Aber für uns mache er eine Ausnahme. Die letzte öffentliche Führung durch das Gebäude fand im Mai dieses Jahres statt. Bis 2028 sollen die Arbeiten laufen, die mit Mitteln von Bund, Land und Kommune finanziert werden. Das Kulturhaus, das heute unter Denkmalschutz steht, sei eines der größten und wichtigsten Häuser der DDR gewesen, erklärt Ruebsam. „Ein Tempel fürs System“. Gebaut wurde es von 1954–1956 für die Arbeiter des Zementwerks Rüdersdorf. Freizeitangebote für die Werktätigen.
Die „Akropolis von Rüdersdorf“ auf einer historischen Aufnahme. Quelle: Stalinbauten.de
Wir betreten den Tempel. In der Eingangshalle empfängt uns ein muffig-modriger Geruch. Riecht irgendwie alt, ein bisschen nach Keller. Oder wie ein antiquarisches Buch, das viele Jahre lang im Schrank gestanden hat. Die Vergangenheit ist sehr gegenwärtig, hier im Kulturhaus Rüdersdorf. So als wäre die Zeit stehengeblieben. Es sieht noch genauso aus wie vor 68 Jahren. Erstbezug, erklärt Ruebsam, so etwas gebe es kaum noch.
Reise in die Vergangenheit: Die gesamte Innen-Ausstattung des Kulturhauses ist erhalten geblieben. Fotos: Julius Sonntag
Die ganze Einrichtung sei original. An den Decken hängen imposante Kronleuchter, das Sonnenlicht scheint durch die repräsentativen Fenster in den Saal und bricht sich an den Säulen, die das Haus wie einen Palast wirken lassen, einen Kulturpalast. Mehr als 400 Menschen hätten vor der Bühne Platz gefunden, sagt Ruebsam. Die Wände sind gelb vom Nikotin, das sich über die Jahrzehnte abgelagert hat. Kontaminiert von der Vergangenheit.
Es ist schwierig, diesen Ort unabhängig von seiner einstigen Funktion zu sehen. Über 2000 solcher Kulturhäuser gab es in der DDR. Nach der Wende sind viele von ihnen abgerissen oder dem Verfall überlassen worden; als „Orte kulturpolitischer Machterhaltung der SED“ seien sie verpönt gewesen, schreibt Ulrike Sebert in einem Beitrag auf Deutschlandfunk Kultur. Ich verstehe das Unbehagen, das einem bei dem Gedanken erfasst, wie der sozialistische Staat – so wie es jede Diktatur tut – das Leben der Bürger bis in die Freizeit hinein zu beeinflussen versucht hat. Die Kulturhäuser der DDR standen, wie Sebert schreibt, weitgehend unter staatlicher Kontrolle und seien „daher häufig auch ideologiebelastet“ gewesen. Tempel fürs System eben.
Für die Rüdersdorfer ist der Ort natürlich weitaus mehr. Mit dem Kulturhaus verbinden sich für sie vielfältige persönliche Erinnerungen, Jugendweihen, Kulturerlebnisse, besondere Momente der eigenen Biografie – Ideologie hin oder her. Es sei so etwas wie das letzte Stück Heimat für die Menschen hier, erklärt uns Ruebsam. Ich muss an meinen Opa denken, der beinahe sein gesamtes Berufsleben in der DDR verbracht hat, der stolz war auf seine Lebensleistung. Wir, die Enkel und Wendekinder, waren oft fassungslos, wenn er so positiv über den Sozialismus und den Alltag in der Diktatur sprach. Wir haben damals nicht verstanden, dass er sonst sein ganzes Leben in Frage gestellt hätte.
Der Stoff, aus dem Berlin erbaut wurde
Einen halben Kilometer vom Martin Andersen Nexö Haus entfernt erstreckt sich über 17 Hektar der Museumspark Rüdersdorf. Er liegt direkt am Abgrund. Von mehreren Punkten des Parks aus haben Besucher einen freien Blick auf den aktiven Kalksteintagebau. Unser Guide führt uns auf den ehemaligen „Seilscheibenpfeiler“, der heute als Aussichtsplattform dient. Tapfer spricht er an gegen das Getöse aus der Grube. Erklärt uns, wie hier vor hunderten von Jahren mit dem Abbau des Kalksteins begonnen wurde. Und dass wir hier, in Rüdersdorf, einen der größten Kalksteintagebaue Mitteleuropas vor uns haben.
Mondlandschaft: Blick auf den aktiven Kalksteintagebau Rüdersdorf. Foto: Julius Sonntag
Aber ist Brandenburg nicht eher bekannt für seinen märkischen Sand? Ja, ganz richtig. Kalk sei völlig untypisch für die Region. Dass es diesen Stoff hier in so großen Mengen gebe, sei eine geologische Singularität. Eine Laune der Natur, gewissermaßen. Das Ergebnis von fossilen Meeresablagerungen, rund 350 Millionen Jahre alt. Schon verrückt, denke ich, der Stoff, aus dem die „Häuser“ der Muscheln und Schnecken bestanden, wird später die Basis für menschliche Behausungen. Vor allem in Berlin sei mit dem Rüdersdorfer Kalkstein gebaut worden. Berlin, ein riesiges Schneckenhaus!
Uns wird ganz schwindelig. Der Blick in die Grube, 50 Meter unter dem Meeresspiegel, all die Zahlen, Fakten, Superlative. Wie konnte all das an uns vorbeigehen? An uns, die wir seit Jahrzehnten zwischen den Bauten aus Rüdersdorfer Kalkstein und Zement leben? Rüdersdorf ist überall, steckt in jedem zweiten bedeutenden Gebäude. Das wird hier, am Rande des Abgrunds, schnell klar. Ein Negativabdruck von Berlin, so habe ein Kollege des Guides den Tagebau einmal bezeichnet. Vielleicht etwas übertrieben, aber auch nicht ganz falsch. Sogar die Stufen von Schloss Sanssouci – unserem Potsdamer „Wahrzeichen“: aus Rüdersdorfer Kalkstein.
Wieder auf sicherem Boden, erkunden wir im Museumspark die steinernen Zeugen der Industriekultur. Riesige Schornsteine ragen hier aus dem Boden, dazwischen Tunnel, Verbindungsgänge, gewaltige Steinmauern. Wie eine Festung wirkt das Ensemble. Unser Guide führt uns in die Öfen, in denen früher der Kalk gebrannt wurde. 48 Stunden musste der Kalkstein bei Temperaturen von über 1000 Grad erhitzt werden. Wir laufen durch die Kammern. In den Gängen ist es dunkel, das Licht funktioniert zurzeit nicht. Unter unmenschlichen Bedingungen hätten die Arbeiter hier geschuftet. Die Wände seien heiß gewesen, die Luft giftig. Vorhölle, nennt der Guide diesen Ort. Alt sei hier keiner geworden. Lebenserwartung: 35 bis 40 Jahre.
In der Vorhölle: Die Rüdersdorfer Öfen im Museumspark. Fotos: Julius Sonntag
Im 18. Jahrhundert sind die Öfen noch mit Holz beheizt worden, der wichtigsten Ressource der Frühen Neuzeit. Am Ende des Jahrhunderts sei der Brennstoff dann knapp geworden, „Holznot“ habe geherrscht. Ein in der Fachwelt umstrittener Begriff. Dennoch, das macht unser Gästeführer klar, sei das Problem der Umweltzerstörung durch die Industrie kein ganz neues. Die Romantiker, formuliert er überspritzt, hätten in ihren Texten eine Natur beschrieben, die es eigentlich schon gar nicht mehr gegeben habe.
Und noch mit einem anderen Mythos räumt unser Guide auf. Brandenburg, das weiß man, ist eines der waldreichsten Bundesländer Deutschlands. Dominiert wird der Brandenburgische Wald von der Kiefer. Auch das weiß man. Rund 70 Prozent der Waldfläche ist von ihr bedeckt. Aber das ist nicht immer so gewesen. Das Holz der ursprünglichen Bäume wurde von der Industrie verschlungen (darunter von den Kalkbrennereinen), zurück blieben versteppte Flächen.
Auf diesen Böden wuchsen nur noch Kiefern. Das war‘s also mit der Brandenburgischen Kiefer. Auch sie nur eine Zugewanderte, die mit den widrigen Lebensbedingungen unserer Region klarkommen muss. Als Identifikationsmythos taugt sie also nur bedingt. Schade eigentlich. Aber: „Wo so wenig ist, ist auch eine Kiefer etwas“, hat Fontane mal geschrieben. Stimmt auch wieder.
Kathedrale des Kalks
Als „Dreckschleuder der Republik“ habe Rüdersdorf damals gegolten, berichtet unser Guide. Die DDR hat die Produktion angekurbelt, unablässig rauchten die 18 Schornsteine der Schachtofenbatterie. Diese ersetze ab 1877 – der Bau begann 1871, im Jahr der Reichsgründung, die einen enormen Wirtschaftsaufschwungs zur Folge hatte – die alten Öfen. In Rüdersdorf wurde der größte baustoffproduzierende Betrieb der DDR errichtet. Mit erheblichen Folgen für die Umwelt: Der Staub, der durch die Zementproduktion entstand, legte sich auf die Bäume, auf die Häuser, auf die Lungen der Menschen, die hier lebten und arbeiteten. Mehr als 50 000 Tonnen Zement- und Kalkstaub pro Jahr. Ich muss wieder an den Begriff „Vorhölle“ denken.
Auf dem Dach der Schachtofenbatterie. Links zu sehen: Das ehemalige Chemiewerk. Fotos: Julius Sonntag
Vom Dach der Schachtofenbatterie aus kann man das benachbarte ehemalige Chemiewerk sehen. Leere Fensterhöhlen, Graffitis auf den Mauern: Das imposante Gebäude, während der Nazizeit gebaut, wurde Ende der 90er zu einem Lost Place. Beliebt bei Hobbyfotografen, aber auch von anderen Kreativen genutzt. Drehort zahlreicher Filme, darunter Hollywood-Produktionen. Rammstein habe hier die Mondlandung für das Video zum Song „Amerika“ inszeniert.
Wir laufen über das Dach der Schachtofenbatterie. Eine Eisentreppe führt nach unten zum Eingang. Die Spannung steigt. Immerhin betreten wir gleich die „Kathedrale des Kalks“. So bezeichnet unser Guide das Gebäude, und so wird es auch auf der Website angepriesen. Es sei, so heißt es dort, „der architektonische Star des Museumsparks“. Und tatsächlich: Als wir die Halle betreten, stockt uns kurz der Atem. Was für ein Blick! Durch die Deckenfenster, die sich über die gesamte Länge des Daches ziehen, fällt das Licht in den Mittelgang, an dessen Seiten im Halbdunkel die Öfen liegen. Hier versteht man, warum die Fabrikarchitekturen des 19. Jahrhunderts oft als „Kathedralen der Arbeit“ bezeichnet worden sind.
Kathedrale des Kalks: Blick ins Innere der Schachtofenbatterie. Foto: Julius Sonntag
Es ist unsere letzte Station. Wir laufen zurück zum Ausgangspunkt, wo schon der Tisch für uns gedeckt ist. Nach einem üppigen Essen im ehemaligen Bergbauamt, gesättigt auch mit Eindrücken und Wissen, steigen wir wieder in unseren kleinen Reisebus, der uns nach Potsdam zurückbringt.
Rüdersdorf? Kennen wir jetzt! Es ist ein Ort der Kontraste. Kaum zu überschätzen in seiner Bedeutung. Hier laufen Industrie- und Zeitgeschichte zusammen, überlagern sich die Erd- und Erinnerungsschichten. Gleich neben dem Park bricht die Landschaft ab. Was auf der einen Seite abgebaut wird, baut sich auf der anderen Seite wieder auf, sozusagen. Werden und Vergehen liegen nahe beieinander. Und dieses Nebeneinander des museal Konservierten und der laufenden Produktion erzeugt ein seltsam anmutendes Bild der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, von Stillstand und Dynamik.
Muss man Rüdersdorf kennen? Ja, unbedingt.