Erstaunliche Zahlen kursierten im letzten Herbst in den Medien. Zunächst zitierten die PNN im Oktober aus einer Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Von 86.900 in Potsdam wirkenden sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wohnten 2022 rund 48.800 gar nicht in der Stadt. Das entspricht einer Quote von satten 56 Prozent! Einen Monat später kündete das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, dass sich im selben Jahr 18.851 Berliner:innen regelmäßig auf zur Arbeit in die Landeshauptstadt machten. Zu diesen Einpendler:innen – ein statistisch korrekter Fachbegriff, der in meinen Ohren dennoch leicht unanständig klingt – zählen auch meine Kollegin Josephine Braun und ich.
„Ruppig, aber herzlich“
Ein Sprung zurück ins Frühjahr 2019: Zwei Jahre lebe ich langjähriger Kölner erst in Berlin. Nach einer nicht sonderlich langlebigen Station im hektischen Online-Geschäft eines Apotheken-Portals treten Potsdam und die Stellenausschreibung für einen Redakteursposten bei der Projektkommunikation HAGENAU in mein Leben. Von der Stadt wusste ich vor meinem Bewerbungsgespräch nicht viel mehr, als dass hier das Schloss Sanssouci und das Museum Barberini stehen.
Mein potenzieller Arbeitgeber macht es mir zunächst nicht leicht. Eine schicke Website gibt es noch nicht. Doch bei intensiver Recherche finde ich unter anderem heraus, dass der Namensgeber Carsten Hagenau die Projektkommunikation vor (damals) 26 Jahren gegründet und die Geburt des Arbeitskreises StadtSpuren mit begleitet hat und er selbst mit seiner Agentur 2003 von Berlin nach Potsdam gezogen ist. Die „Stimme der Wohnungsbauer“ nennt ihn zu diesem Anlass ein Artikel in den PNN. Gar so mitteilsam erlebe ich ihn beim Bewerbungsgespräch am 20. März nicht. Seiner Miene kann ich schwer entnehmen, ob ich mit meiner rheinischen Offenheit punkte oder nerve.
Etwas muss ich dennoch richtig gemacht haben. Am 8. April beziehe ich meinen Schreibtisch schräg gegenüber vom Nauener Tor mit traumhaftem Blick auf die Baumwipfel der Hegelallee und das im alten niederländischen Stil gebaute Haus des Café Heider. Manche meiner hiesig sozialisierten Kolleg:innen (inklusive dem gebürtig Ost-Berliner Chef) zeigen sich zu Beginn noch etwas reserviert, aber tauen mit der Zeit immer weiter auf.
Seit April 2019 hat Torsten Bless einen Schreibtisch mit traumhaften Ausblick in der Hegelallee. Foto: Konstantin Börner
Eine Ex-Kollegin aus der Portalzeit erklärt mir in einer Whatsapp-Nachricht, mit welchem Menschenschlag ich es künftig zu tun habe: „Der Brandenburger an sich ist ja eher ruppig und scheint schlecht gelaunt und klingt immer, als würde er sich beschweren – also typisch so wie ich – aber im tiefen Herzen sind wir herzlich und ehrlich und so gar nicht hip, aber zufrieden. Wir sind eher was für den zweiten Blick.“
Dynamische Transformationen
Mit der Zeit lernen der Rheinländer und die (Wahl-)Brandenburger:innen immer mehr, sich aufeinander einzugrooven und vor allem zu schätzen. Im Rahmen meiner Redaktionstätigkeit lerne ich viel über Potsdam und die vielen Brüche und Transformationen, die die Stadt durchlebt hat. Als Bonus kommt – über die Wohnungsgesellschaft im Spreewald und ihr Magazin „Spreewälder“ – noch Lübbenau, Altdöbern und Vetschau mit ihren ebenso dynamischen Veränderungen dazu. Gerade Carsten Hagenau lässt mich immer wieder an seiner Erfahrung und seinem reichhaltigen Wissen teilhaben.
Ich begegne vielen spannenden Menschen und Projekten. Ins Schloss mit der schwierigen Schreibweise schaffe ich es nie, dafür lerne ich Babelsberg, Drewitz, den Schlaatz, die Waldstädte und den Stern kennen. Die Seen, die Havel und das viele Grün finde ich sehr erholsam. Das Potsdam Museum vermittelt mir mit spannenden Ausstellungen neue Einblicke in die Stadtgeschichte. Das Museum Barberini begeistert mich nach wie vor mit tollen Retrospektiven. Und beim einzigartigen Fahrrad-CSD des engagierten und einfallsreichen Regenbogen Potsdam e. V. darf ich die Stadt noch mal ganz neu entdecken. Grundsympathisch finde ich, dass die Potsdamer:innen sich selbst genug zu sein scheinen und die benachbarte Metropole mit ihren Verlockungen gar nicht so vermissen. Nur den hiesigen Karneval kann ich als Kölsche Jeck bis heute nicht ganz ernstnehmen.
Ein Wohlfühlort
Mit der Zeit verliebe ich mich (rein platonisch natürlich). Mein Kollege Julius Sonntag hat mir passend dazu eine ZEIT-Kolumne geschickt. Anna Mayr bringt es hier stellvertretend für mich auf den Punkt: „Jeder Mensch, finde ich, braucht Orte abseits der eigenen Wohnung, an denen er sich wohlfühlt. Unterschlüpfe“, schreibt die Autorin. „Ein Ort, an dem es ruhig ist. An dem man herumsitzen kann, da sein, sich beschäftigen. Ein Ort, der das Gewicht der Welt abfedert, weil er einem das Gefühl von Zugehörigkeit gibt, von geregelten Verhältnissen. Es fällt mir schwer, das unkitschig aufzuschreiben – meine Liebe zu Orten überkommt mich.“
Mit diesem Team steuert die Projektkommunikation HAGENAU in die Zukunft. Foto: Konstantin Börner
So ein Ort ist für mich das Büro in der Hegelallee. Hier treffe ich meine Kolleg:innen. Die weitläufigen Räume verbreiten (trotz mancher Aufräumaktion) einen angenehmen Hauch von kreativem Chaos. Ich erlebe es als Bereicherung, in der einen Stadt zu leben und in der anderen zu arbeiten. Das merke ich so richtig erst, als mir der Zugang während der Corona-Pandemie über viele Monate versperrt bleibt. Mein virtuelles Potsdam im Mariendorfer Homeoffice aufzuschlagen und die geschätzten Kolleg:innen nur bei Video-Meetings auf dem flachen Laptop-Schirm zu sehen, ist einfach nicht dasselbe.
Seit meinem Dienstbeginn im Frühjahr 2019 hat die Projektkommunikation eine dynamische Entwicklung durchlebt. Wir bleiben offen für Veränderungen, erschließen uns neue Aufgabengebiete und lernen in Fortbildungen (oder auch autodidaktisch) neue Fertigkeiten hinzu. Und ich darf ständig an neuen Herausforderungen wachsen.
Manche Kolleg:innen sind gegangen, andere dafür hinzugekommen. Das eine oder andere mag schon mal nerven. Und manchmal weiß man vor lauter Aufgaben gar nicht, wo einem der Kopf steht. So ist das an jedem Arbeitsplatz allüberall.
Doch eines hat sich in all dieser Zeit nicht geändert: Wir dürfen mit unseren persönlichen Eigenheiten und vielfältigen Lebensweisen so sein, wie wir sind. Wir gehen über zwei Generationen hinweg fair, solidarisch und angenehm ränkefrei miteinander um. In meinem langjährigen Berufsleben habe ich das selten so erlebt. Ich komme gerne ins Büro.
Auf die nächsten fünf Jahre!