Ein Winter in Potsdam

„Winterdepression, wenn ich das schon höre. Wirklich Depressive fürchten nämlich den Sommer, weil im Sommer die Sonne das Elend ans Tageslicht holt.“

(Heinz Strunk: Zauberberg 2)

Potsdam, Februar 2025. Foto: Julius Sonntag

Schlechtes Wetter gibt es nicht, nur falsche Kleidung. So lautet die bekannte Redewendung, mit der notorischen Wetternörglern gerne entgegnet wird. Jetzt, im Winter, ist dieser Satz wieder vermehrt zu hören. Ich selbst sage ihn mir manchmal mantraartig vor, um mich von seiner Richtigkeit zu überzeugen. Wenn ich mal wieder friere, weil sich der Winter besonders unwirtlich zeigt und die Hoffnung auf bessere Tage schwindet. Es ist der etwas klägliche Versuch einer Selbstbeschwörung.

Wer trotz richtiger Kleidung keine Lust auf Winterspaziergänge hat, der kann sich auf eine andere Argumentation stützen: Wenn es draußen ungemütlich und dunkel ist, kann man Zeit im trauten, warmen Heim umso mehr genießen! Couch, Tee, Kerze – und ein schönes Buch. Das Erfolgsrezept, um dem Winterblues zu entkommen. Wann, wenn nicht jetzt, ist die ideale Zeit, um endlich den Bücherstapel abzuarbeiten, der in den warmen Monaten, als man Aperol Spritz trinkend auf dem Balkon saß, immer höher geworden ist?

Anbieten würde sich etwa die Lektüre von Thomas Manns weltberühmtem Roman Der Zauberberg. Nicht nur, weil das Buch im vergangenen Jahr sein 100. Jubiläum gefeiert hat und Thomas Mann in diesem Jahr 150 alt geworden wäre, was überall, zumindest in der Kulturwelt – in Lübeck sogar mit dem Besuch des Bundespräsidenten –, gefeiert wird. Sondern auch, weil Der Zauberberg ein sehr langes Buch (rund 1000 Seiten) und dabei beunruhigend gegenwärtig ist. Kurzum: Der Roman scheint die perfekte Winterlektüre zu sein.

Meister der Absturzgeschichten

Da ich ihn selbst bereits gelesen habe (als Literaturwissenschaftler habe ich hier naturgemäß geringere Widerstände zu bewältigen als der normale Leser), weiche ich auf den wesentlich kürzeren Zauberberg 2 aus. Heinz Strunk, der „Meister der Absturzgeschichten“ (Deutschlandfunk Kultur), hat im vergangenen Jahr, pünktlich zum Jubiläum von Manns Klassiker, die Geschichte von Hans Castorp, der in den Davoser Bergen dem romantischen Zauber von Liebe, Krankheit und Tod erliegt, in die Gegenwart übersetzt. Auf seine ganz eigene Weise beleuchtet Strunk darin die seelischen Abgründe der menschlichen Natur.

Vielleicht nicht die erbaulichste Lektüre, denke ich, aber erstens ist das Buch für mich ohnehin Pflicht, und zweitens passt es auch nicht schlecht zur winterlich-gedrückten Stimmung dieser Tage. Ein dritter Grund, der mich nicht zögern lässt, Strunks Absturzgeschichte zu beginnen: Bereits vor zwei Jahren, damals im Sommer, habe ich ein paar Wochen mit Strunk verbracht (wie mir Ein Sommer in Niendorf durch eine persönliche Krise geholfen hat, erfährt man in meinem Text Ein Sommer in Potsdam). Nun soll mich Strunks Zauberberg 2 also durch diesen Winter begleiten.

Düstere Gedanken

Der Wecker klingelt, Jonas Heidbrink, der 36-jährige Protagonist, quält sich aus dem Bett. Der Tag fängt nicht gut an: „Düstere Gedanken quellen aus den Kratern und Schlünden seines Gehirns hervor und kreisen um bevorstehende Widrigkeiten, erwartbare Hindernisse, mögliche Komplikationen.“ (9) Die Zukunft, ein bedrohliches Gebirge, unüberwindbar. Sein „Gehirn, eine schäumend sich drehende Waschmaschine voll Schmutzwäsche“. (10) Damit ist das Grundthema des Romans – der Kampf mit den Abgründen des Kopfes – bereits zusammengefasst. „Alles Kopfsache, es ist immer alles nur Kopfsache“ (276), heißt es auf der letzten Seite.

Draußen schneit es („Schneeregengrau“, 12), in der Küche, wohin sich Heidbrink geschleppt hat, ist es kalt. Er packt seine Sachen, nimmt den Koffer, steigt ins Auto. Sein Ziel: Eine Privatklinik für Menschen mit psychischen Problemen, irgendwo in der Einöde Mecklenburg-Vorpommerns. Seine Miene während der Fahrt: „völlig ausdruckslos“ (12). Sein Magen „pulsiert“, eine „unsichtbare Schlinge legt sich ihm um den Hals“ (13). Als er am Zielort ankommt, überkommt ihn „eine überwältigende, an Lähmung grenzende Verwirrung“. (15) Die bevorstehenden Widrigkeiten lassen ihn innerlich und äußerlich erstarren. Das ist schon mehr als ein Winterblues.

Ich frage mich: Ist Heidbrink eine bedauerliche Ausnahme, ein Extremfall? Oder ist er vielleicht repräsentativ, so etwas wie ein typischer Deutscher – sein Leiden womöglich sogar symptomatisch für den mentalen Zustand des spätmodernen Menschen? Ende November 2024 hatte ich einen Artikel in der MAZ gelesen. Die Headline bildet ein Zitat des Vorstandsvorsitzenden der Mittelbrandenburgischen Sparkasse, Andreas Schulz. In Deutschland, meint Schulz, hätten „viele Menschen keinen Bock [mehr] auf Zukunft“. Das Land, so sein Eindruck, befinde sich „insgesamt im Blues“. Etwas, das er längst für überwunden gehalten habe, sei offenbar zurück:  die „German Angst“.

German Angst

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Soziologe Hartmut Rosa, der mit seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2019) so etwas wie den Schlüsseltext für die Analyse der krisenhaften Spätmoderne geschrieben hat. Entfremdung bezeichne den Gegenpol der Resonanz. Die gekappte Verbindung, das Fehlen eines positiven Weltbezuges in einer Gesellschaft der Singularitäten (so der Titel eines Buches, das Rosas Kollege, der Soziologe Andreas Reckwitz, 2016 verfasst hat und worin er das Individuum im Zustand der totalen ‚Befreiung‘ beschreibt). In einem Interview mit tagesschau.de redet Rosa im vergangenen Sommer über die jüngsten Wahlergebnisse, die Zunahme mentaler Probleme, über Erschöpfung und Einsamkeit.  

All diese Werte hätten sich verschlechtert. Also auch hier: Blues überall. Die grassierende Hoffnungslosigkeit sieht Rosa auch als Ergebnis einer falschen politischen Kommunikation: „In der politischen Bildersprache ist die Zukunft heute ein einziger Abwehrkampf auf einer abschüssigen Bahn nach unten“, fasst er zusammen. Viele (offenbar sogar die meisten) Menschen würden das Leben derzeit wahrnehmen als „Bewegung auf eine einzige dunkle Wand aus Kriegen, Seuchen und Klimakatastrophen zu.“ Mit anderen Worten: Die Zukunft, ein bedrohliches Gebirge, unüberwindbar.

Ich denke an Heidbrink, wie er erst im Bett liegt, todmüde und gleichzeitig hellwach, vor sich eine dunkle Wand aus Hoffnungslosigkeit und Angst, wie er sich in die Routine zwingt – „Trinken, pinkeln, Hände waschen“ (10) –, um nicht im dunklen Strudel seiner Gedankenkreise zu versinken, um in Bewegung zu kommen – „in der Bewegung lösen sich die Verknotungen oft von selbst, man konzentriert sich auf etwas anderes“ (ebd.) –, wie er sich trotzdem irgendwie ins Auto setzt: eine Fahrt auf einer abschüssigen Bahn nach unten, die Kehle zugeschnürt, Schweiß auf der Stirn, obwohl es eiskalt ist.

In der „Heilanstalt“ angekommen, fühlt sich Heidbrink „schutzlos ausgeliefert“ (21), gefangen „in einer feindlichen Welt“ (20). Hier kennt er niemanden, ein Ausgeschlossener, Hilfloser, den skeptischen Blicken der Mitpatienten und den bohrenden Fragen der Ärzte ausgesetzt. Ohnmächtig, ängstlich. „Eigentlich hatte er vor allem Angst“, heißt es an einer Stelle (18).

Heilung durch Monotonie

Die Hoffnung, dem Abgrund der eigenen Gedankenschleifen durch Ablenkung und Routinen, durch die instinktmäßige Weiter-Bewegung zu entkommen – wie sie sich in der Darstellung von Heidbrinks Morgen-Ablauf vor der Abfahrt zur Klinik darstellt –, durchzieht den Text wie ein Leitmotiv. Die monotone Abfolge der Mahlzeiten und Therapiesitzungen, mit deren immer wiederkehrender ausführlicher Schilderung Strunk den Leser zuweilen auch etwas quält, erscheint als mögliche (wenngleich wenig überzeugende) Rettung des fragilen Ichs, dessen depressive Lebensängstlichkeit überall nach Halt sucht.

Es ist wohl kein Zufall, dass Heidbrink bei seiner Ankunft die resolute Schwester Irene, die ihn am Eingang empfängt, skeptisch und doch voll Bewunderung, ja Neid betrachtet: „Die Frau steht […] genau an dem Platz, an den sie gehört. Steht so fest im Leben, dass sie nicht einmal mit einem Räumfahrzeug zur Seite geschaufelt werden könnte.“ (16). Die Flucht in die Gedankenlosigkeit ständig sich wiederholender Tätigkeiten erscheint damit als Ausdruck einer diffusen Hoffnung auf eine irgendwie fade, aber doch beruhigende Art von Stabilität, von Glück vielleicht. Als Suche nach einem festen, Sicherheit bietenden Existenzgrund.

Wieder muss ich an Rosas Resonanz-Buch denken. Im zweiten Kapitel untersucht er die körperlichen Weltbeziehungen. Eingangs stellt er fest: „Die Gewissheit, dass der Boden, auf dem wir stehen, trägt, gehört zu den fundamentalsten Bedingungen der ontologischen Sicherheit.“ Wenn diese Sicherheit ins Wanken gerät, erlebe der Mensch dies als schockartiges Ereignis. Es öffnet sich ein Abgrund, der traumatische Verlust von Sicherheit lässt ein Gefühl entstehen, „als werde uns der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Noch schlimmer als die Plötzlichkeit des Schocks ist allerdings das dauerhafte Fehlen einer festen Grundlage, die Krise in Permanenz. Heidbrink spricht in Bezug auf seine „destruktiven Gedanken“, denen er ausgesetzt sei, von einer „Dauerschieflage“ (32).

Um über die Abgründe des ständig „Gedankenunrat“ (Thomas Bernhard) produzierenden Kopfes balancieren zu können, ohne von den „Kratern und Schlünden“ des Gehirns verschluckt zu werden, braucht es die Fähigkeit, sich zeitweilig abzulenken – sich auf andere Gedanken zu bringen, noch besser: sie gänzlich abzuschalten. Diesen Ansatz – so Heidbrinks Interpretation – verfolgt die Musiktherapie. Die ausgewählten Stücke enthalten besonders viele Wiederholungen. The River is flowing etwa (das Strunk leitmotivisch einsetzt) sei ein Lied, das von der Wiederholung lebe, erklärt Therapeutin Veronika. Heidbrink fragt sich: „Ist das der gewünschte Effekt?“, um kurz darauf festzustellen, dass hier offenbar „dem Muster Heilung durch Monotonie“ (56) gefolgt wird. Die Einsicht in die Methodik verhindert dabei nicht den (temporären) Effekt: „Sein Kopf wie leergeräumt“ (55)

Tiefenerschöpfung

Aller Versuche zum Trotz, bringen die Therapien keine Heilung. Sie sind nicht nachhaltig, können Heidbrinks „Dauerschieflage“ nicht beseitigen. Was durch meditative Übungen erreicht werden soll – Tiefenentspannung – stellt sich nicht ein. Im Gegenteil: Heidbrink fühlt sich weiterhin „tiefenerschöpft“ (32). Strunk verdichtet in diesem Wort das zentrale Krisengefühl unserer Zeit: den Zustand der totalen, weil dauerhaften Erschöpfung. Die kommt vor allem daher – wenn man den Diagnosen des Soziologen Rosa folgt –, dass sich alles immer mehr beschleunigt. Dabei dreht sich die Bewegung jedoch auf verhängnisvolle Weise um: „Wir laufen nicht auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir rennen vor einem düsteren Abgrund davon“, sagt Rosa.

In dem Versuch, der eigenen Dunkelheit (und derjenigen der Zukunft) durch Ablenkung zu entkommen, zeigt sich etwas von der Hilf- und Ratlosigkeit der Gegenwart. Was fehlt uns eigentlich? „Ein Mensch kann tief deprimiert sein, obwohl er über all das [Materielle] verfügt. Man muss die Frage nach gelingendem Leben also anders stellen. Ich meine, es kommt darauf an, wie jemand mit der Welt verbunden ist“, sagt Rosa. Ist diese Verbindung gestört oder fehlt sie ganz, drohe der kollektive Burnout. Davor warnte im November 2024 auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel. Sein Plädoyer: „Wir müssen die gesellschaftliche Erstarrung und die mentale Depression überwinden.“

Heidbrink, das wird an vielen Stellen des Romans erkennbar, leidet am Fehlen eben jener Verbindung, für die Rosa den (beinahe Thomas Mannschen) Begriff „libidinöse[-] Weltbeziehung“ geprägt hat. In einer Sitzung mit seinem Arzt Dr. Reuter beschreibt Heidbrink das Gefühl fehlender Verbindung bzw. eines negativen Weltbezugs: Es komme ihm vor, als befinde sich in seinem Kopf ein „Filter“, der „alles Schöne abhält und nur das Schlechte durchlässt.“ (154) Die Erschöpfung durch den permanenten Negativitäts-Durchlauf führt zu einer inneren Erstarrung: „Wie etwas Hartes und Dunkles in meinem Inneren, ein Stein.“ (ebd.)

Als Folge des depressiven Weltverhältnisses stellt sich ein Gefühl der Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit ein: „Gefangen in einem lauen Fötalstadium, seltsamer Schlaffheit, flimmernder Interessenlosigkeit. Vielleicht wird er auf Dauer in diesem farblosen Zustand verharren, in dem nichts Gutes oder Schlechtes mehr geschieht.“ (132). Was Heidbrink erlebt, könnte man so zusammenfassen: totaler Resonanzverlust.

Im Dickicht der Seele

„Ich fühle mich innerlich leer. Höllische Kopfschmerzen. Mein Körper rebelliert gegen die seelischen Strapazen. Erschöpft.“ Das sind nicht Heidbrinks Gedanken – sondern meine eigenen. Notiert im Dezember 2024 in meinem Notizbuch, worin ich nicht nur ‚Lesefrüchte‘ eintrage, sondern auch Gefühlszustände vermerke, Gedanken, Selbstbeobachtungen.

Im Dezember, als ich die oben zitierten Sätze schrieb, wurde meine Ehe geschieden. Ein kurzer formaler Akt nur, der Endpunkt einer bereits länger zurückliegenden „Absturzgeschichte“. Die Gefühle von damals sind abgekühlt. Die zeitliche Distanz hat inneren Abstand geschaffen. Und doch katapultiert mich der Gerichtstermin für einen Moment zurück in den Abgrund jener Tage, in den Sommer, der all das Dunkle ans Tageslicht geholt hat. Die Erinnerung an den Kipppunkt, das Aufeinanderprallen der Luftschichten, heiß und kalt, der große Knall.

Der Boden, den wir noch eben als fest wahrgenommen haben, schrieb ich in Ein Sommer in Potsdam, kann auf einmal schwanken. Ich denke wieder an Heidbrink, wie er nachts aus einem „schrecklichen Traum“ aufwacht, Schweiß auf der Stirn, Herzrasen. Ein „Erwachen in Finsternis“. Die Realität kann schlimmer sein als der schrecklichste Albtraum: „Im Zimmer das Dunkel, das vom Boden aufquillt und lautlos über ihm zusammenschlägt.“ (118)

Die Angst, die eigentliche Angst, ist nicht die vor der plötzlich hereinbrechenden Katastrophe, vor der alles hinwegfegenden Explosion – sondern die vor dem Verharren in jenem „farblosen Zustand“, der auf sie folgt. Vor dem Selbst- und Weltverlust, dem Verschwinden der Lebensenergie, dem unaufhörlichen Wühlen im Schmutz der eigenen Seele: „Je weiter man das Dickicht zu erforschen versucht, desto undurchdringlicher wird es.“ (132)

Im Zustand der Depression erscheinen einem auch die anderen Menschen als abgeschlossen, fremd, unerreichbar. Judith Hermann, die 1998 in ihrem ersten Erzählband Sommerhaus, später der Melancholie des spätmodernen Großstadtmenschen Ausdruck verliehen hatte, schreibt 25 Jahre später: „Je mehr wir versuchen, uns zu erklären, desto mehr missverstehen wir den anderen.“ (Wir hätten uns alles gesagt) Die Depression, so könnte man sagen, ist der Zustand, in welchem wir die Zuversicht verlieren, eine Verbindung zur Welt aufbauen zu können. Die Welt bleibt stumm, das Gegenüber antwortet nicht mehr, der Draht ist abgerissen.

Aus dem Egoloch herauskraxeln

Strunks Protagonist– darin ähnelt er Hans Castorp in Manns Zauberberg – ist ein guter Patient. „Heidbrink nimmt an allem teil, macht alles mit, ohne zu murren, zu klagen“ (128). Und er ist nicht gänzlich ohne Hoffnung: „[V]ielleicht haben die Therapien ja doch eine Wirkung“, denkt er einmal (ebd.). Schon vorher gibt es zaghafte Anzeichen von Zuversicht. Nach einem Gespräch mit der resoluten, fest und sicher im Leben stehenden Schwester Irene, denkt Heidbrink: „Aber vielleicht hat Schwester Irene ja auch recht, und alles wird gut.“ (81)

Ja, vielleicht wird doch alles gut. Natürlich, es bleiben immer Zweifel. Die Zweifel nagen an der Zuversicht, wie Wühlmäuse an den Wurzeln der Bäume. Sie untergraben immer wieder die aufkeimende Hoffnung, den Lebensmut, lassen die Sehnsucht nach Verbindung als unerfüllbaren Wunsch erscheinen, unterminieren das fragile Ich und entziehen ihm den Boden ontologischer Sicherheit. Heidbrink, der Patient einer teuren Privatklinik, hat ein Dach über dem Kopf, bekommt regelmäßig gehaltvolle Mahlzeiten. Aber seine destruktiven Gedanken halten ihn gefangen in seiner metaphysischen Obdachlosigkeit.

Dabei gibt es sie in diesem Buch: die Momente der Hoffnung, des kurzen Aufleuchtens der Lebensenergie, der Andeutung eines anderen Weges. In einer der Therapiesitzungen zu Beginn kommentiert Heidbrink in Gedanken die Erzählung eines Mitpatienten: „Wie wäre es denn damit: konkrete Verantwortung für einen (oder mehrere) hilfsbedürftige(n) Menschen übernehmen, um aus dem Egoloch herauszukraxeln?“ (80) Auch Selbstfürsorge erscheint als Möglichkeit, um der Negativität zu entkommen. Eine Zeit lang habe Heidbrink es mit Yoga versucht. Nach den Sessions sei er stets „von regelrechten Glücksgefühlen geflutet“ worden. Dann hat er aber wieder aufgehört. Und obwohl er nun „mehr Zeit als genug hat, kann er sich nicht aufraffen.“ (92)

Heidbrink ist sich seiner Problematik sehr bewusst, immer wieder reflektiert er die eigenen Bedürfnisse und die Hindernisse, die diesen im Wege stehen. Während einer der Mahlzeiten wird er von Anja angesprochen, eine Frau, die er zuvor nie gesehen hatte. Sie ermuntert ihn, am Abend an einer Kartenspiel-Runde teilzunehmen. Heidbrink, zunächst skeptisch, lässt sich schließlich darauf ein: „Die Begegnung wird ihm Auftrieb verleihen! Auftrieb, gutes Wort, dem Glück ähnlich, aber doch etwas anderes. Gelegentlich braucht man etwa Auftrieb.“ Strunk spiegelt dieses kurze, innere Aufleuchten seiner Figur in einem Wetterumschwung: „Ein Blitz erhellt für Sekundenbruchteile den Sumpf“ vor der Klinik. (96)

Angstfreie, unverstellte Begegnung

Auf einmal erscheint es Heidbrink möglich, sich aus seiner Erstarrung zu lösen: „Jetzt heißt es, aus dem ewigen Selbstmitleidsnebel herauszutreten. Teil der Gemeinschaft werden, Mensch unter Menschen, ins Lachen der anderen einstimmen, den Abstand zwischen sich und der Welt ein wenig verringern.“ (96) Aber Strunk wäre nicht Strunk, nicht der „Meister der Absturzgeschichten“, wenn er diese Resonanzsehnsucht seines Protagonisten einfach erfüllen würde. Am Abend, als Heidbrink erwartungsvoll den Raum betritt, fehlt jede Spur von Anja. Augenblicklich fällt er zurück in sein Loch. „Voll die Horror-Runde“ (97), stellt er fest.

In einer wenig später stattfindenden Gruppentherapie unter dem Motto „Tanz und Bewegung“ (103) sollen die Patienten lernen, Vertrauen aufzubauen und Nähe zuzulassen. „NÄHE ZULASSEN: Heidbrink wehrt die Umarmungsversuche der anderen zunächst ab, bevor er sie zulässt. ANGSTFREIE, UNVERSTELLTE BEGEGNUNG.“ (107) Er überwindet seine Angst, und siehe da: „[W]as in der Vorstellung peinigend und dämlich und blamabel war, entwickelt sich zu Heidbrinks erstem schönen Gruppenmoment“. Es habe sich „irgendetwas verwandelt“: „Heidbrink ist derart gerührt, dass sich seine Kopfhaut zusammenzieht und ihm Tränen in die Augen steigen.“

Kurz darauf wird ein „Kulturabend“ veranstaltet (111). Eine Patientin, Frau Dähne, liest eine selbstverfasste Geschichte mit dem Titel „Besucherritze“ vor (113). Es ist der komischste Moment des Buches. Die skurrile Erzählung holt die Patienten (und auch die Leser) für einen Augenblick aus ihren Gedankenschleifen, eröffnet den poetischen Raum des freien Spiels, lässt die Grenzen der Realität verschwimmen. Am Ende des Abends wird das alte Volkslied Guten Abend, gute Nacht angestimmt. Und es ist bemerkenswert, wie Heidbrink darauf reagiert. Er ist „berührt von der Kraft dieser einfachen Weise, Tränen sammeln sich in seinen Augenhöhlen. Dieser Abend ist etwas Besonderes. An diesem Abend ist sein Leben gut.“ (117) Doch schon die Nacht bringt neue Schrecken: „Wolfsstunde. Erwachen in Finsternis.“ (118)

Ein Lichtbogen zwischen Finsternissen

Dieser ständige Wechsel aus Erwartung und Enttäuschung durchzieht den ganzen Roman, gibt ihm seine Grundstruktur. Im Gespräch mit Dr. Reuter findet Heidbrink ein tief pessimistisches Bild für die Tragik, die er im Menschsein sieht: „Für die meisten Menschen besteht das Leben aus einer Serie von Niederlagen und Erschütterungen, die sie mal mehr, mal weniger gut wegstecken. Ein Lichtbogen, der in Finsternis beginnt und in Finsternis endet. Und das meine ich ganz neutral, ganz sachlich.“ (155) Eines Abends wird der Feueralarm ausgelöst, die Patienten der Klinik sammeln sich vor dem Gebäude. Wieder keimen kurz Sehnsucht und Hoffnung in Heidbrink auf: „So ein Feueralarm, denkt er, böte doch Gelegenheit, einander näherzukommen, durch Gespräch und gemeinsames Erleben. Eigentlich. Dann steht er aber doch nur da mit gesenktem Blick“ (130 f.).

Zum Mitpatienten Klaus (hochgradig depressiv, Kettenraucher) baut Heidbrink so etwas wie eine freundschaftliche Beziehung auf. Es bleibt jedoch eine eher toxische Verbindung – die bei einem gemeinsamen nächtlichen Besäufnis zu Klaus‘ Geburtstag beinahe zu einer tatsächlichen Vergiftung führt. Klaus stirbt kurz darauf. Im zweiten Teil des Romans erscheint „HERR BERNHARD ZEISSNER“ – ein vitaler, ewig monologisierender Mensch, ein „raumgreifende[r] Mann“, „die Verkörperung natürlicher Autorität“ (150). Das macht Heidbrink natürlich zunächst Angst, doch bald nähern sich die beiden an. Wieder gelingt es ihm, seine Hemmungen temporär zu überwinden. Heidbrink und Zeissner unternehmen gemeinsame Spaziergänge, unterhalten sich. In Zeissners Nähe fühlt sich Heidbrink „gut, sicher, geborgen“ (192).

Aber auch diese Begegnung ist nicht heilsam, eine wirkliche Verbindung kann sich nicht aufbauen, da Zeissner im Wesentlichen Monologe hält. Zeissner erkennt das auch selbst und stellt es am Ende entschuldigend gegenüber Heidbrink fest: „Wir sind nie in ein echtes Gespräch geraten, weil ich dich nicht zu Wort kommen lassen habe. Mangel an rückfragendem Interesse“ (238). „Die ausschließliche Beschäftigung mit sich selbst deutet auf einen Mangel an Empathie.“ (239)

Als Zeissner entlassen wird, verabschieden sich die beiden, wünschen sich alles Gute. Doch: „Sie haben weder Telefonnummern noch E-Mail noch Adressen ausgetauscht.“ Heidbrink möchte noch etwas sagen, ist aber „nicht schnell genug, der Moment ist schon verstrichen.“ (239) Heidbrink verpasst die Gelegenheit, bleibt stumm. „Später meint er noch gesagt zu haben: Melde dich, wenn du in der Nähe bist. Er hat die Worte wohl nur gedacht.“ (240) Und so endet auch dieser Versuch, eine nachhaltige Verbindung aufzubauen, in der Vergeblichkeit.

Über allem schwelt düstere Agonie

Heidbrink bleibt. Den Bezug zur Außenwelt hat er längst verloren (ein kurzer Ausflug zum nahegelegenen Stettiner Haff bleibt die einzige Unternehmung außerhalb des Klinikgeländes und der unmittelbaren Umgebung). „Das Klinikum ist nun so groß wie die ganze Welt.“ (240) Morgens quält er sich pflichtbewusst aus dem Bett – „kämpft“ sich, „unter einer Ladung Schotter in einem tiefen Schacht begraben, aus Schichten von Müdigkeit, Langeweile und Dumpfheit hoch an die Oberfläche.“

Es ist wie am Morgen seiner Abfahrt, den die Eingangsszene des Romans schildert; die Routine ist nun aber endgültig zu einer unendlichen Wiederholung des Schrecklichen erstarrt. „Wiederholung folgt auf Wiederholung folgt auf Wiederholung“ (55), wie es bei der ersten Musiktherapie-Sitzung hieß. Heilung ist nicht in Sicht. Heidbrink „fürchtet die schlaflosen Nächte, die endlosen Nachmittage, all die leeren Stunden. […] Die voranschreitende Zeit verändert nichts, sondern dehnt sich immer nur noch weiter aus, Stunden, Tage, Wochen fließen ineinander über. Er hat die Orientierung verloren“ (240 f.). Erdrückende Monotonie, „Ewigkeitssuppe“ (so nennt es Thomas Mann in seinem Zauberberg).

Die Klinik schließt dann irgendwann, nicht nur vorübergehend, wie die Hausleitung zunächst mitteilt, sondern für immer. Die Patienten fügen sich in ihr Schicksal: „Die meisten […] dämmern gleichgültig dem Tag der Schließung entgegen.“ (251) Auch Heidbrink verlässt die Einrichtung, lethargisch, hoffnungslos. Die Zukunft: düster, ein bedrohliches Gebirge, unüberwindbar. „Bald wird es die Klinik nicht mehr geben, so wie es alles irgendwann nicht mehr geben wird.“ (254) Die Schließung der Klinik – die ja inzwischen seine „ganze Welt“ geworden war – erscheint ihm als Symbol für den unaufhaltbaren Verfall des Lebens selbst. Nun muss er zwangsläufig seinen Weg außerhalb des gewohnten Klinikalltags finden. Das, was kommt, steht vor ihm wie ein gähnender Abgrund, die Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz, die er fühlt, nimmt ihm jede Zuversicht: „Das ganze Streben nach Individualität vergebens, man endet als kahlköpfiger, schwammiger Batzen.“ (269)

Weltfest des Todes

Es ist Sommer. Heidbrink fährt wieder ans Stettiner Haff. Er läuft zum Ufer, blickt in die Dämmerung, es riecht „nach Rauch und Feuchtigkeit“ (274). Die Hoffnungslosigkeit steigert sich ins Unermessliche. Während er damals oft von Panik ergriffen wurde, fühlt er jetzt eine tiefe, ruhige Gleichgültigkeit. Kein Funken Zuversicht ist mehr in ihm. Gefangen in jenem Zustand „flimmernder Interessenlosigkeit“. „Im Grunde genommen weiß er schon lange, dass er sich nie wieder anders fühlen wird als jetzt gerade: ein nicht enden wollender Schlag in die Magengrube.“ (275) Sein Leben – ein (sehr kurzer) Lichtbogen, der in Finsternis begann und in Finsternis endet. Die Welt, stellt er nüchtern fest, „ist kein guter Ort.“

Innen und Außen treten erneut in ein Entsprechungsverhältnis: die „Dunkelheit schwillt“ an (275), „Himmel und Wasser verschmelzen.“ (276) Heidbrink wird von Todessehnsucht erfasst. Er zieht sich aus, läuft langsam ins Wasser und „schwimmt und schwimmt und schwimmt“. Das Licht schwindet immer mehr, die „letzte Farbe läuft aus dem Himmel ab wie Wasser durch einen Abfluss.“ So wie die letzte Lebensenergie aus Heidbrinks Körper: „Etwas strömt aus ihm heraus“. Er entschwindet dem Leben, und dem Blick des Lesers. Sein Verschwinden ist lautlos, es gibt keinen großen Knall, keinen „Donnerschlag“, wie am Ende von Manns Zauberberg, wo Hans Castorp in die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges rennt.

So lautlos wie das Ende ist, so einsam ist es auch. Kein „Weltfest des Todes“. Es ist ein individueller Untergang. Wer das Original kennt, dem kommen auf der letzten Seite von Strunks Roman dennoch die Schlussworte des Erzählers in den Kopf:

Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?

Zauberberg 2 ist ein schwer erträgliches Buch, weil es uns schonungslos mit den eigenen Abgründen und den mentalen Krisen unserer Zeit konfrontiert. Es ist ein kluges Buch, ein wichtiges Buch. Eine Schocktherapie für diejenigen, die in der Ablenkung leben, die sich vor den Zumutungen der Realität in eine wattierte Welt der Schein-Harmonie flüchten. Ein Aufruf an alle, die eigenen Gefühle, die eigenen Ängste (und auch die der anderen) ernst zu nehmen. Eine Erinnerung daran, dass wir im Grunde alle das Gleiche suchen: Liebe, Verständnis, Nähe – Verbindung. Und dass wir aus dem „Egoloch herauskraxeln“, unsere Isolation überwinden müssen, wenn wir eine bessere Welt wollen. Damit aus der schlimmen Fieberbrunst einst wieder die Liebe steigen kann.

Das Ende der Hoffnung

Der Winter neigt sich seinem Ende entgegen. Mit ihm schwindet auch meine Hoffnung. Strunks Roman hat dazu beigetragen, mich von ihr zu lösen. Und das meine ich positiv. Ich empfinde diesen Prozess als Befreiung, als produktive Desillusionierung. Hoffnung scheint mir eng verwandt zu sein mit jenem Zustand der mentalen Erstarrung, den Jonas Heidbrink in Zauberberg 2 erlebt. Wenn wir hoffen, sind wir passiv. Wir leben in der Erwartung, dass etwas Gutes passiert, dass es irgendwie durch irgendetwas oder irgendwen eintreten wird. Die Hoffnung ähnelt dem Wunderglauben.

Aber was ist, wenn es gar keine Hoffnung gibt? Diese Frage stellte Ariane Bemmer im April 2024 in einem Kommentar im Tagesspiegel. Hoffnung, schreibt sie, sei „nicht unbedingt ein helfender Fingerzeig von außen.“ Das Leben werde nicht allein dadurch besser, dass man auf einen „gütige[n] Gott oder glückliche Umstände“ vertraut. Man müsse auch selbst etwas dafür tun. Wer nur hofft, der legt das Gelingen der Zukunft in die Hände des Schicksals, der Zeit. Der entzieht sich der eigenen Verantwortung. So wie es der Fatalist tut, der überzeugt davon ist, dass wir der Vorsehung nichts entgegensetzen können.  

Im Mai 2023, wenige Tage bevor meine Ehe zerbrochen ist, habe ich einen Text geschrieben, der kurz darauf in der Schublade verschwand. Der Lauf der Ereignisse hatte ihn überholt. Wenn ich ihn heute lese, dann sehe ich darin einen Ausdruck tiefer Verzweiflung. Den hilflos-hoffnungsvollen Wunsch, dass das ‚Schicksal‘ eine andere Wendung nehmen möge. Am Ende schrieb ich:

Versuchen wir es weiter. Auch wenn es manchmal gar nicht so einfach ist. Es wird schon gut ausgehen. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Wir rebellieren weiter. Bleiben widerständig. Hoffnungsvoll und hoffnungslos zugleich, immer im Wechsel, beständig schwankend. Glücklich und unglücklich, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Gemeinsam einsam, zerrissen zwischen Glückseligkeit und Verzweiflung. Uns verlierend und immer wieder anziehend. Bis dass der Tod uns scheidet.

Ich hatte mich in den schützenden Schoß der Hoffnung gerettet, mir selbst eine Trotz- und Trostgeschichte geschrieben.

Die Zeit heilt keine Wunden

Das Ende meiner Ehe hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Für einige Zeit verschwand ich fast vollständig im Abgrund meiner Gefühle. Die Zukunft: ein bedrohliches Gebirge, unüberwindbar. Mir fehlte die Kraft für echte Zuversicht. Stattdessen klammerte ich mich an die Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Zeit meine Wunden heilen werde. Ich brauchte nur Geduld.

Es stimmt, das Vergehen der Zeit hilft bei der Heilung. Sie lehrt einen, dass man jeden Morgen aufs Neue aufsteht, egal wie tief der Schutthaufen ist, aus dem man sich an die Oberfläche hervorkämpfen muss. Dass man immer noch da ist, dass das Leben einfach weiterläuft, dass die Sonne auf- und untergeht, die Bäume ihre Blätter verlieren und sich im Frühjahr neue Knospen bilden. Es ist gerade die Gleichgültigkeit der Zeit, die tröstlich ist. „Die Zeit heilt deine Wunden nicht, der Zeit bist du egal“, singt Kraftklub-Frontmann Felix Kummer. Den Song habe ich oft gehört.

Das Vergehen der Zeit hilft bei der Heilung. Aber die Zeit heilt keine Wunden. Nicht die Zeit allein. Wir müssen ihr dabei helfen. Uns selbst helfen. „Die voranschreitende Zeit verändert nichts, sondern dehnt sich immer nur noch weiter aus“, stellt der Erzähler in Strunks Roman kurz vor dem Ende fest. Heidbrink ist zu diesem Zeitpunkt bereits im Zustand der völligen Erstarrung angelangt.

Pflicht zur Zuversicht

Im Zauberberg 2 werden mehrfach Heidbrinks Panikattacken geschildert. In einer dieser Szenen ist er so verzweifelt, dass er zu beten beginnt:

„Heiser, schleppend, fast unhörbar wimmert er vor sich hin.

GLÜCK. FREUDE. HOFFNUNG. LIEBE.

FRIEDEN. WÄRME. LEBENDIGKEIT. HOFFNUNG.

Die Worte gären, bald werden sie zu ihm aufsteigen

GLÜCK. FREUDE. HOFFNUNG. LIEBE. FRIEDEN. WÄRME.

Andere Worte erscheinen

VETRAUEN. WAHRHEIT. GNADE.

KRAFT. HEILUNG. VERGEBUNG.

ERLÖSUNG. AUFERSTEHUNG. GLAUBE.

[…]

Es schlägt die Stunde der Gebete. Die Religion hat die ganze Zeit auf ihre Chance gewittert, und jetzt schwillt der Glaube in seinem Kopf wie ein Tumor.“ (185)

Wie ein Ertrinkender nach dem Strohalm, greift Heidbrink nach dem Glauben. Hoffnung, immer wieder Hoffnung. Auf Gnade, Erlösung, Auferstehung – Heilung. Als es ihm (etwas) besser geht, kann er auf die Anrufung göttlicher Kräfte verzichten. Er besinnt sich wieder auf die irdische Kraft; auf seine eigene. Das Heilungs-Rezept lautet nun wesentlich pragmatischer: Heraustreten aus dem „ewigen Selbstmitleidsnebel“, Verbindung zu anderen Menschen aufbauen, „den Abstand zwischen sich und der Welt ein wenig verringern.“ Noch prägnanter wurde das Konzept im Rahmen der Bewegungstherapie formuliert: Nähe zulassen.

Heidbrink ersetzt die hilflose Hoffnung durch eine realistische Zuversicht. Beide Begriffe – darauf hat Giovanni di Lorenzo in der Weihnachtsausgabe der ZEIT (Nr. 55, 24.12.2024, Seite 1) zu Recht hingewiesen – werden oft synonym verwendet, „sie sind es aber nicht.“ Zuversicht ist etwas anderes als Hoffnung, und „womöglich“, schreibt di Lorenzi, ist sie „die Haltung, die wir heute am dringendsten benötigen.“ Als größte Feindin der Zuversicht bezeichnet er den Zynismus. Dieser diene denen, die ihn nutzen, als „ein unschlagbares Alibi fürs Nichtstun.“ Vielleicht wäre es richtiger, Fatalismus und Hoffnung als gleichbedeutende Begriffe zu verstehen. Denn was sie verbindet, ist die Passivität.

Wenn es etwas gibt, das ich in den letzten Monaten gelernt habe, dann dies: Wir dürfen uns nicht von falschen Hoffnungen und künstlichem Licht blenden lassen, sonst verharren wir im Nichtstun. Sonst bleiben wir die Motte, die unaufhörlich um die Kerze kreist und dann in der Flamme verbrennt. Es ist nicht leicht, diesen Weg zu gehen. Er erfordert Arbeit, verlangt, dass wir uns aus unseren toxischen Mustern befreien. Wenn das nicht gelingt – das können wir bei Hans Castorp und Jonas Heidbrink lernen –, läuft irgendwann die Lebensenergie aus uns ab wie Wasser durch einen Abfluss.

Egal, wie schwierig es manchmal ist: „[E]s hilft nichts“, schreibt Giovanni Di Lorenzo. „Wir haben eine Pflicht zur Zuversicht! Trotz allem.“ Ja, trotz allem.

Bereits 2016, nach dem ersten Wahlsieg Donald Trumps, diagnostizierte der Zukunftsforscher Matthias Horx eine „Epidemie der Angst“. Ein geeignetes Mittel, um dieser Angst zu entgehen, sieht er in der – Zuversicht. „Zuversicht“, schreibt Horx, ist „eine aktivere, vitalere Haltung als die Hoffnung, die ja (vor allem) die Intention hat, uns zu trösten.“ Sie beinhalte vor allem eines: „Selbst-Wirksamkeit“, die Überzeugung, dass „Menschen ihr Leben, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können“. Die Selbstwirksamkeitserwartung des Individuums ist im Übrigen auch für Hartmut Rosas Resonanz-Konzept zentral. Der entfremdete Mensch fühlt sich stets als Opfer, er kennt keine Selbstwirksamkeit. Er ist, um es mit Heidbrink zu sagen, gefangen im „Selbstmitleidsnebel“, der ihm den Blick trübt.

Die Zuversicht sei laut Horx nicht auf das Problem fixiert, sondern interessiere sich für Lösungen. In einem Artikel in der Augsburger Allgemeinen (30.12.2024) fasst der Zukunftsforscher zusammen, was er unter Zuversicht versteht. Ich möchte dieses Plädoyer von Horx ans Ende meines Textes stellen:

Viele Menschen haben die Zukunft ja schon aufgegeben – sie richten sich bequem in einem grantigen Untergangsgefühl ein. Mit mehr Gelassenheit und Dankbarkeit können wir uns auch wieder öffnen für das Positive, das auch auf der Welt passiert, auch wenn es derzeit nicht in unserem Fokus ist. „Zukunft“ ist eine Entscheidung, sich am Möglichen zu orientieren, anstatt immer nur auf das Negative zu starren. Aufzubrechen aus der Jammerzone und das zu tun, was möglich ist.

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