DER
HAGE
NAUER

Ein Sommer in Potsdam

„Keine Geschichte ist die, die ich erzählen wollte oder müsste. Aber ich kann davon erzählen, dass ich das Eigentliche nicht erzählen kann, das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte […].“

(Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt, S. 99)

 

Foto: Julius Sonntag
Potsdam, Juni 2023. Foto: Julius Sonntag

 

Ich sitze vor einem leeren Blatt und suche nach dem ersten Satz. Der erste Satz ist immer der wichtigste. Das erste Wort, die erste Suchbewegung in die Richtung, die meine Gedanken nehmen werden. Der Schlüssel zu allem. Am Anfang war das Wort.

Wenn der erste Satz in meinem Kopf Gestalt annimmt, beginnt der Gedankenfluss. Der erste Satz ist der Ursprung, die Quelle, aus der sich die Geschichte speist, aus der sie entsteht. Er ist „ein Lot, das ich in einen tiefen Brunnen senke“. (Judith Hermann)

Noch vor dem ersten Satz kenne ich den Titel meines Textes. Er entsteht nicht nachträglich, wird nicht aus dem Gesagten extrahiert, er steht schon fest, wenn ich beginne zu schreiben. Er verrät mir, worüber ich schreiben werde, zwingt mich, die Geschichte zu konzentrieren.

„Ich“ steht am Anfang dieses Textes. Das habe ich nicht beabsichtigt, habe es nicht bewusst gesetzt, dieses „Ich“. Aber es sagt mir, worüber ich schreiben muss. Über mich. Über meinen Sommer. Meinen Sommer in Potsdam.

Der Sommer begann zaghaft, wie immer, und wurde dann zunehmend unerträglich. Schließlich war es nicht mehr zum Aushalten, die Hitze setzte sich fest, die Schwüle kündigte ein Gewitter an. Nach dem Gewitter kühlte es für lange Zeit ab. Der Sommer schien vorbei. Und nur der Donner des Wolkenbruchs hallte eine Weile nach. Die Erinnerung an den Kipppunkt, das Aufeinanderprallen der Luftschichten, heiß und kalt, der große Knall.

Ich sitze auf dem Balkon und versuche, „Ein Sommer in Niendorf“ zu lesen. Den neuen Roman von Heinz Strunk. „Spiegel-Bestsellerautor“ steht auf einem roten Aufkleber auf dem Cover. Meine Kolleginnen und Kollegen hatten mir das Buch letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt. Jetzt endlich lese ich es.

Die Sätze vibrieren vor Hitze, man kann den Sand spüren, das Meer riechen. Aber das Meer riecht hier nicht frisch, es hat einen Fäulnisgeruch. Der Ferienort ist bevölkert von zwielichtigen Gestalten. Die Geländer an der Strandpromenade sind klebrig von Cocktailsoße und fettigen Pommes.

Abends treffen sich die verlorenen Seelen in den Kneipen und versuchen, ihren Schmerz zu betäuben. Sie reden und schreien durcheinander, sprechen in Phrasen und gelallten Halbsätzen. Am Ende ist nur die Nacht. Vergessen. Filmriss. Und am Morgen beginnt alles von vorn: „Ein Sonnenaufgang ist doch etwas Entsetzliches, wenn sich nach und nach die Schrecken aus der Dunkelheit schälen.“

Roth, ein erfolgreicher Anwalt um die 50, verliert sich zunehmend in den Niendorfer Niederungen, versinkt im Alkohol und im Sumpf seiner Empfindungen und Gedankenschleifen. Er ist – so schreibt es Katharina Herrmann in ihrer Rezension des Buches (Deutschlandfunk Kultur, 17.06.2023) – „die Figur des in die Krise geratenen weißen Mannes“. Bin ich das auch? Ein in die Krise geratener weißer Mann?

Ja, vielleicht. Aber zumindest kein alter in die Krise geratener weißer Mann. Noch nicht. Doch immerhin alt genug, um mich mit den großen Sinnfragen zu quälen. Kurz vor der 30 sei das Leben noch offen, meint der namenlose Ich-Erzähler in Simon Strauß‘ Roman Sieben Nächte. „Aber bald, sehr bald, werde ich mich festlegen müssen. Auf ein Leben, eine Arbeit, eine Frau. Bald werden die Tage und Treffen vorübergehen, ohne dass sie etwas verändern. Werden die Momente ohne Wirkung bleiben und die Erschütterungen nachlassen.“ An diese Sätze muss ich jetzt denken.

Die 30 habe ich längst überschritten. Viele Weichen sind gestellt, Entscheidungen getroffen. Das Leben hat etwas von seiner Offenheit verloren, und trotzdem scheint es mir stetig im Fluss zu sein. Der Boden, den wir noch eben als fest wahrgenommen haben, kann auf einmal schwanken. Wie lose Äste treiben wir durch die Strömung, hin- und hergeworfen von den Ereignissen, den äußeren und inneren. Die Tage und Treffen gehen vorüber, aber sie verändern etwas. Die Momente bleiben nicht ohne Wirkung, sie schreiben sich fort, hinterlassen Spuren in der Seele. Wenn das, was auf dem Spiel steht, mehr Gewicht hat als damals, sind die Erschütterungen umso verheerender.

Meine Gedanken und der Lesefluss werden plötzlich durch einen ohrenbetäubenden Knall unterbrochen. Eine Explosion. Eine Bombe womöglich. Ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Oder sind das schon die Russen? Die Scheiben zittern, der dumpfe Knall hallt nach und hinterlässt ein mulmiges Gefühl der Bedrohung. Was geht hier vor sich? Ich schaue mich um, kann aber nirgendwo Rauch oder Flammen erkennen. Es ist auf einmal gespenstisch ruhig. Und dann: ein erneuter Knall. Ohrenbetäubend. Wieder wackelt das Haus, die Scheiben zittern.

Erst eine Stunde später klärt sich alles auf: Die „explosionsartigen Geräusche“ seien durch Eurofighter der Luftwaffe verursacht worden, die auf einem Routine-Übungsflug von Mecklenburg-Vorpommern über Brandenburg und Berlin unterwegs waren. Sie hätten die Schallmauer durchbrochen, was die Detonations-Geräusche verursacht habe.

Es beginnt zu dämmern. Ich sitze wieder auf dem Balkon und starre auf die Bäume des Parks, deren Umrisse sich langsam in der einsetzenden Dunkelheit verlieren. Auf dem Tisch brennt eine Duftkerze, die nach Vanille riecht. Ich habe sie lange nicht mehr angezündet. Um die Flamme kreist eine Motte, und ich strenge mich an, nicht den unvermeidlichen Gedanken zu denken, den von der Motte und dem Licht. Aber es gelingt mir nicht. Warum fliegen sie in die Flamme? Was zieht sie dort hin?

Das Mondlicht. Sie suchen das Mondlicht. Künstliches Licht irritiert ihre Sensoren, sie verlieren die Orientierung, werden abgelenkt von der falschen Lichtquelle. Die Motte zieht immer engere Kreise um die Flamme. Ihr hektisches Flattern ist jetzt beinahe das einzige Geräusch. Ich zünde mir eine Zigarette an. Sie beruhigt meine Sinne, betäubt mich für einen Augenblick. Ich spüre, wie das Gift in meinen Körper eindringt. Sie gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit, denke ich, dabei zerstört sie mich. Es ist nur ein scheinbarer Trost, eine Täuschung. Ich halte sie für etwas anderes, als sie tatsächlich ist. So wie die Motte, die glaubt, zum Mond zu fliegen und dann in der Flamme der Kerze verbrennt.

Die Zeilen schwanken im flackernden Licht der Kerze. Strunks Sprache ist brutal. Sie bohrt sich in den Körper, seziert schonungslos. Die Sätze entwickeln einen unwiderstehlichen Sog, ziehen einen hinein in eine abgründige Gedankenwelt. Ich muss an den Maler Strauch denken, jene Figur aus Thomas Bernhards Roman Frost, über die der Erzähler an einer Stelle schreibt: „Er schiebt ganz einfach seine Hinfälligkeit in Form von Sätzen in mich hinein, wie photographische Bilder in einen Lichtbildapparat, der dann die Schrecken an den immer vorhandenen gegenüberliegenden Wänden meiner (und seiner) selbst zeigt.“

Die Bilder krallen sich im Kopf fest. Roths Zimmer, die Stapel von leeren Styroporverpackungen, Flaschen, Essensreste. Ich rieche die abgestandene Luft des Appartements. Sehe die Sonne durch die zugezogenen Gardinen scheinen. Spüre den Kater. Die Übelkeit des Morgens.

Ab und zu fliegen jetzt Fledermäuse durch den nächtlichen Himmel. Sie wirken ruhelos, wie auf der Flucht. Durch meine Kopfhörer zittert die Stimme Post Malones:

 

Couldn’t fall asleep all night

I tried with all my might

I thought I knew what you want

 

It isn’t all that nice

But I guess it will suffice

It’s hard to know what you want

 

Draußen ist es immer noch warm, fast stickig. Ich sitze vor einem Blatt, das nicht mehr leer ist. Es ist nun gefüllt mit Sätzen. Gedankensplittern, Stimmungen. Habe ich das Eigentliche gesagt? Habe ich die Geschichte erzählt, die ich erzählen wollte? „Jede Entscheidung für einen Satz“, schreibt Judith Hermann, „ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“

Ich wollte diesen Sommer auslöschen. Ihn vernichten. Habe ich erzählt, warum ich das tun musste? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich stehe am Ende, und ich stehe am Anfang. Worum geht es? Es geht um mich. Und um das, was ich nicht ausdrücken kann. Worum meine Gedanken kreisen. Was mein Herz zerdrückt. Was ich versuche, auszuradieren, um davon befreit zu sein. Damit ich wieder der sein kann, der ich sein möchte: ich.  

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