Zum 150. Geburtstag von Thomas Mann bringt der S. Fischer Verlag als limitierte Sonderedition eine Playmobil-Figur des berühmten Autors heraus. Es ist nicht die einzige Besonderheit im großen Jubiläumsjahr. Unser Kollege Julius Sonntag, der sich als Literaturwissenschaftler seit mehr als 15 Jahren intensiv mit Leben und Werk Thomas Manns beschäftigt, ist zu dessen Geburtstag nach Lübeck gefahren. Hier schreibt er, warum wir einen neuen Blick auf den ‚Klassiker‘ brauchen.

Wo ich auch hingehe – seine Augen verfolgen mich. Wissend, streng, aufmerksam. Von Bushaltestellen, aus Schaufenstern, von Fassaden, überall trifft mich der Blick. Wie in einem Vexierspiegel zerfällt sein Gesicht in mehrere Teile, fächert sich auf, facettiert das Monumentale seines Bildes. „Meine Zeit“ steht in mintgrüner Schrift über dem multiplen Porträt. „Thomas Mann und die Demokratie“ lautet der Untertitel.
Das Plakat kündigt die Sonderausstellung des Buddenbrookhauses an, die am 6. Juni 2025 eröffnet wurde. Hier, in der Hansestadt Lübeck, ist dieser 6. Juni ein besonders wichtiger Tag: Es ist der 150. Geburtstag Thomas Manns, des berühmtesten Sohnes der Stadt, der in diesem Jahr weltweit gefeiert wird. Wie groß das Interesse am „Mythos Mann“ ist, zeigt etwa die vom Netzwerk Thomas Mann International ins Leben gerufene Website Mann2025.de, die als zentrale Plattform die Aktivitäten des Jubiläumsjahres bündelt.
Zum Festakt in der Lübecker Aegidienkirche spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Staatsbesuch zu Ehren eines Autors. Steinmeiers eindringliche Stimme hallt durch die Kirche, füllt den Raum. Feierlich wird einem zumute. Doch seine Rede (hier nachzulesen) ist keine unkritische ‚Beweihräucherung‘, sondern sie würdigt Thomas Mann als komplexen, auch widersprüchlichen Schriftsteller. Wer sich mit ihm einlasse, der begebe sich auf „eine Reise voller Überraschungen“.
Beige oder bunt?
Das Jubiläumsjahr, heißt es auf der Website des Netzwerkes, biete „die Möglichkeit, auch einen kritischen Blick auf Thomas Mann zu werfen: Welche Widersprüche prägen sein Werk und seine Haltung?“ Mit anderen Worten: Wer war dieser Mann eigentlich? Was sagen uns seine Texte heute? Was können wir von ihm lernen? Ist es lohnend, sich mit seinem Werk und seinem Leben zu beschäftigen? Das große Jubiläum bietet ausreichend Anlässe, um sich diese Fragen zu stellen.
Längst ist Thomas Mann nicht mehr das Monument, als das er einst verehrt (und auch gefürchtet) wurde. Neue Generationen von Lesenden und Forschenden nähern sich ihm aus diversen Perspektiven. Wie gewinnbringend ein unverstellter Blick auf den Klassiker sein kann, hat kürzlich beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal gezeigt. In ihrem Beitrag Being Bi. Mixed-race und mixed-up mit Thomas Mann entdeckt sie neue Seiten am berühmten Schriftsteller und fragt sich: „Warum wurde uns das nicht in der Schule im Deutschunterricht beigebracht?“

Thomas Mann: Der Name schreckt noch immer viele ab. Altmodisch, steif, zu lange Sätze, heißt es dann. „[N]orddeutsch, oft dekorativ und ziemlich beige“ – so beschreibt die US-amerikanische Germanistin Veronika Fuechtner ihr damaliges Bild von Thomas Mann in ihrem Jubiläumsbeitrag in der Neuen Rundschau. Als ich kürzlich meine Kollegin Sarah Stoffers (ebenfalls Germanistin) auf den Artikel von Mithu Sanyal aufmerksam machte, war sie zwar sehr erfreut (sie schätzt Sanyal), musste mich aber dennoch enttäuschen: Thomas Mann wird aber auch sie mir leider wahrscheinlich nicht schmackhaft machen, so ihr (für mich) ernüchterndes Fazit. Immerhin: in „wahrscheinlich“ steckt etwas Hoffnung.
Es ist also immer noch schwierig, Menschen davon zu überzeugen, dass Thomas Mann gar nicht so „beige“ ist, wie sie annehmen. Woran liegt das? Zum einen sicherlich an dem Bild, das er selbst von sich entworfen hat (der Korrekte, der Leistungsethiker). Ganz bestimmt hängt es auch damit zusammen, dass sein Bild viel zu lange zurechtgeschnitten und eindimensional vermittelt worden ist. Der Literaturwissenschaftler Kai Sina, der kürzlich in einem sehr lesenswerten (und erfreulich lesbaren) Buch den politischen Aktivisten Thomas Mann vorgestellt hat (Was gut ist und was böse, 2024), betonte diesen Aspekt bei der Tagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft, die vom 5. bis zum 8. Juni in Lübeck stattgefunden hat und die Feierlichkeiten rahmte.
Vom Zauberberg zum Zauberberg 2
Der Blick auf Thomas Mann hat sich in den letzten Jahren und Jahrzenten gewandelt – nicht nur der auf die Person, sondern auch der auf seine Texte. Unter der einst so starr erscheinenden Oberfläche des kanonisierten Werkes wird immer deutlicher die Multiperspektivität und damit Modernität seines Werkes sichtbar. Wie viel es mit uns und unserer Gegenwart zu tun hat, wurde bereits im vergangenen Jahr ins öffentliche Bewusstsein gerufen: Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Erscheinens von Der Zauberberggab es zahlreiche Veranstaltungen, Texte und Dokumentationen, die Bezüge zwischen dem großen Sanatoriums-Roman und den Krisen unserer Zeit hergestellt haben.
Pünktlich zum Jubiläum hat der Autor Heinz Strunk den (literarischen) Beweis für die Aktualität von Manns Roman und erbracht, indem er diesen in die Gegenwart übersetzt hat. Strunk stellte sein Buch – Zauberberg 2– im vergangenen September im Rahmen der Tagung der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft in Lübeck vor. Die Resonanz: durchweg positiv. Zumindest beinahe: Nur ein paar ältere Herren störten sich am Titel. Ihr Bild von Thomas Mann ist wohl, wie man annehmen muss, immer noch eher beige als bunt.
Mein Kollege Lutz Langer ist nicht nur ein passionierter Leser, sondern auch ein bescheidener Mensch. Immer wieder betont er, lediglich ‚einfache‘ Belletristik zu lesen. Thomas Mann? Mit dem habe er nun wirklich nicht viel am Hut, zu schwere Kost. In seinem Bücher-Podcast Hauptsache lesen! (@hauptsachelesen) gibt er regelmäßig Lesetipps, spricht über Literatur und mit Autoren. In der Regel werden Texte vorgestellt, die man der Kategorie Unterhaltungsliteratur zuordnen könnte. Über Strunks Zauberberg 2 und das Original von Thomas Mann wollte er trotzdem unbedingt mit mir sprechen.
Kann man beide Texte miteinander vergleichen? Darf man das überhaupt? Was hat uns Thomas Mann heute noch zu sagen? Und warum sollte man vor Besucherritzen auf der Hut sein? Wer sich für die Antworten interessiert: Das Gespräch zwischen Lutz und mir gibt es hier zum Nachhören.
Warum mich Strunks Buch auch persönlich sehr bewegt hat, erfährt man in meinem Text Ein Winter in Potsdam. Darin werfe ich, gemeinsam mit Strunk, einen Blick auf die Krisen unserer Gegenwart – und in meine eigenen Abgründe.
Hol den Vorschlaghammer!
Der dritte Tag der Lübecker Jubiläumstagung beginnt mit einer Einführung der Literaturwissenschaftlerin Irmtraud Hnilica, die über die internationale Identität von Thomas Mann spricht. In ihrer Rede nutzt sie eine Formulierung, die man als Motto über die gesamte Tagung und die Feierlichkeiten stellen könnte: Wir sollten, sagt sie, Thomas Mann „nicht als Denkmal verstehen, sondern als Denkpartner“. Ich notiere mir den Satz begeistert und setze mehrere Ausrufezeichen dahinter.
Mir kommt der Song von Wir sind Helden in den Kopf. Hol den Vorschlaghammer! Sie haben uns ein Denkmal gebaut. Über 20 Jahre ist das schon her. Aber die Botschaft des Songs ist natürlich zeitlos: Ein Denkmal versaut die Liebe. Das weiß jeder Vollidiot. Trotzdem hat es immer wieder Menschen – sehr kluge sogar – gegeben, die aus Thomas Mann ein unnahbares Monument machen wollten. Dass diese Autorfassade inzwischen bröckelt, vielfach schon eingerissen wurde, ist ein großes Glück.
Ich habe Thomas Manns Sprachkunst immer bewundert. Ein Denkmal war er deshalb für mich nie. Ein Denkpartner dagegen schon. Ein Lebenspartner beinahe. Er hat die Höhen und Tiefen meines Lebens begleitet, mich getröstet, angeregt, inspiriert, herausgefordert zu kritischer Selbstreflexion. Immer wieder bin ich zu ihm zurückgekehrt. Die Liebe zu seinem Werk – sie hat länger gehalten als jede andere Liebesbeziehung meines Lebens.
Wer sich mit Thomas Mann einlasse, sagte Steinmeier in seiner Rede, der begebe sich auf „eine Reise voller Überraschungen“. Das klingt ein bisschen abgedroschen, aber es stimmt. Was man auf dieser Reise lernen kann? Vor allem: Wie kompliziert und schön es ist, ein Mensch zu sein.
Wie viel Fun steckt in Thomas Mann?
Das Jubiläumsjahr lädt dazu ein, diesen Autor zu entdecken. Wer ihn, wie ich, schon gut kennt (oder: gut zu kennen glaubt), der kann lernen, ihn wieder neu zu entdecken. Wer bislang keinen Zugang zu seinem Universum gefunden hat, dem liefert dieses Jahr unterschiedlichste Anregungen für eine erste Annäherung. Was in jedem Fall gilt: Wer sich mit Entdeckerfreude und ohne zu große Ehrfurcht auf den Weg macht, wird reich beschenkt.
Um die Angst vor dem Denkmal zu überwinden, hilft es, einen unverkrampften Blick einzunehmen. Darf man den Zauberberg langweilig und den Tod in Venedig kitschig finden? Diesen und anderen ‚ketzerischen‘ Fragen widmet sich unter der Leitfrage „Wie viel Fun steckt in Thomas Mann?“ eine Folge des NDR Kultur Bücherpodcast eat.READ.sleep., die als „Special Session“ am 1. Juli in Lübeck aufgezeichnet und im September ausgestrahlt wird.
Wie viel „Fun“ in Thomas Mann steckt, hat etwa der Wissenschaftler Felix Lindner in seinem Twitter-Account „Thomas Mann Daily“ gezeigt, in welchem er von 2022 bis 2023 täglich einen Auszug aus den Tagebüchern Manns veröffentlichte. Ende letzten Jahres erschien ein „Best-of“ dieser Einträge in Buchform: Mit Thomas Mann durch das Jahr. Im Literarischen Quartett des ZDF bemerkte Thea Dorn dazu: „Das perfekte Geschenk für alle Thomas-Mann-Verehrer, für alle Thomas-Mann-Hasser und für alle, die noch nie was von Thomas Mann gelesen haben!“
Das wäre doch ein Anfang.