Alle in einem Boot

Masken wurden 2020 zum vertrauten Alltagsutensil. Foto: Torsten Bless

 

Scheinbar ferne Zeiten: Unser Chef Carsten Hagenau rief am 13. März auf Instagram und Facebook unsere persönliche Corona-Stunde Null ins Gedächtnis, genauer gesagt: an seine Weisung, unsere Arbeit ab sofort im Homeoffice fortzusetzen. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag vor fünf Jahren. Bevor wir uns nach und nach von der Hegelallee für unbestimmte Zeit verabschiedeten, ging die PK-Besatzung ein letztes Mal gemeinsam essen.

Im Rückblick schrieb Carsten: „Noch im März haben wir technisch aufgerüstet für das Arbeiten im Homeoffice. Ab April waren wir ein paar Wochen auf Kurzarbeit, dann hatten wir aber neue Aufgaben und andere Arbeiten gefunden. Im Mai drehten die Alleinstehenden in ihrer Einsamkeit durch, im Juni die Mütter, die mit ihren Kindern zu Hause Schule spielen mussten. Wir haben Wege gefunden, um da gut durchzukommen – jeder für sich selbst, und gemeinsam als Team.“

So sehr ich alles andere unterstreichen konnte, sträubte ich Alleinstehender mich gegen die Unterstellung, schon im Mai „durchgedreht“ zu sein. Ich beschloss, meine Erfahrungen zu reflektieren. Dieser Prozess nahm fünf Monate in Anspruch – ein Zeichen dafür, wie hartnäckig ich manches von damals verdränge.

 

Superspreader Karneval

Wohlan, schalten wir zurück zum Jahresbeginn 2020. Schon seit Ende des Vorjahres kursierten die Berichte über eine neue hochansteckende Krankheit. Sie trat erstmals in der mir bis dato völlig unbekannten chinesischen Provinz Wuhan auf. Innerhalb von wenigen Wochen schossen die Infektionszahlen im gesamten Land rapide in die Höhe. Ende Januar brachte eine Geschäftsreisende das Virus in ihre Firma nach Bayern mit. Am 15. Februar geriet eine Karnevalsveranstaltung in Gangelt im rheinischen Kreis Heinsberg zum ersten Superspreader-Event mit gleich Dutzenden von Neuerkrankungen.

Derweil fuhr ich nur vier Tage später in meine alte Heimat Köln, um den Fastelovend zu feiern. An vier Abenden brachte ich als DJ die Gäste in meiner alten Stammkneipe zum Schunkeln und Tanzen.

Zurück in Potsdam und Berlin überschlugen sich die Ereignisse und die neu gemeldeten Ansteckungsraten. Derweil machten Bilder aus dem besonders getroffenen italienischen Bergamo die Runde. Unser Chef Carsten Hagenau beschloss am 13. März, uns „umgehend“ und bis auf Weiteres ins Homeoffice nach Hause zu schicken. Die PK ging damit vielen anderen Firmen voraus. Wie viele Millionen anderer fand ich mich in einer neuen Realität wieder.

"Wie viele Millionen anderer fand ich mich in einer neuen Realität wieder."

 

Aggro im Lockdown

Viele der mir so vertrauten Anlaufstellen mussten damals von einem Tag auf den anderen für Monate oder gar Jahre ihre Türen schließen, meine Stammkneipen, mein Lieblingsclub, die mir persönlich so wichtigen Museen und Theater. Mein Chor MÄNNER-MINNE durfte nicht mehr proben, denn die beim Singen freigesetzten Tröpfchen wirkten (so stand zumindest in den Medien zu lesen) wie ein Brandbeschleuniger.

Manche Not konnte im Internet zumindest halbwegs gelindert werden. Die Kleinkunstbühnen zeigten ihre Shows im Netz, die Sammlungen und Ausstellungen von Museen konnten vom heimischen Sofa aus erkundet werden. Auch ich war gegen eine Spende für die notleidende Künstlergemeinschaft gerne dabei.

Meine eigene queere Community erdachte sich eine Global (K)no(w) Talent Show. Immer wieder samstags konnten sich hier Mutige aus allen Erdteilen mit kulturellen Beiträgen in einer Zoom-Live-Schalte einbringen, egal ob aus Deutschland, vielen anderen europäischen Ländern, den USA, Israel oder gar Südafrika. Da stellte sich für ein paar Stunden eine weltweite Verbundenheit ein. Nach Ende der Übertragungen blieb ich abrupt allein im heimischen Wohnzimmer zurück.

Persönliche Kontakte beschränkten sich meist auf Wochenend-Spaziergänge oder -Fahrradtouren mit Freunden. Vernünftig und verantwortungsvoll trug ich Masken, wenn vorgeschrieben. Ich wusch meine Hände in der vorgeschriebenen zeitlichen Länge und nahm dafür rissige Haut in Kauf. Und machte mir Sorgen um meine Vorräte an Toilettenpapier.

Doch als alleinlebender Single hatte ich auch Bedürfnisse. Im Oktober setzte ich mich auf ein mir bis dato unbekanntes Sofa zu einem gemütlichen, platonischen Zweierfernsehabend ohne Stoßlüften und Mindestabstand. Drei Tage später fühlte ich mich matt und müde, mit der Konzentration war es nicht weit her, die Arbeit ging nur in Zeitlupe voran. Ich litt weder unter Fieberschüben noch unter Gliederschmerzen, Atembeschwerden oder gar einer Lungenentzündung. Aber mir schwante nichts Gutes.

Einen Selbstschnelltest gab es im Frühherbst 2020 noch nicht. Erst nach einer guten Woche hatte ich meinen Termin in einer Arztpraxis. Das Personal empfing mich in schwerer Seuchenschutzkleidung. Wenig sensibel wurde ohne Vorwarnung ein Wattestäbchen tief in die Nase gerammt. Das trieb mir die Tränen in die Augen. Ein paar Tage später bestätigte ein Sprechstundenangestellter per Telefon die erste Corona-Diagnose in den Reihen von PK.

Der Verlauf blieb glimpflich. Ich freute mich, dass ich danach erstmal ein paar Monate gegen eine Neuansteckung immunisiert war. Und verfolgte ungeduldig die Berichterstattung über die Fortschritte bei der Entwicklung von Impfstoffen. Als sie endlich eintrafen, posteten nach und nach die ersten „Freunde“ ihre Injektionspflaster in den Sozialen Medien. Sie sorgten damit (hoffentlich ungewollt) bei mir für Neid und (ja, ich gebe es zu) leichte bis mittelschwere Aggro-Tendenzen. Mit völligem Unverständnis nahm ich die „Corona-Leugner“-Demos und das scheinbar selbstverständliche Nebeneinander von Reichsbürger:innen und Regenbogenflaggen wahr.

Erst als ich selbst am 1. Juni 2021 meine erste Impfung bekam, stellte sich wieder ein Gefühl von Entspannung ein. Kurz vor Weihnachten konnte ich die dritte in meinem kleinen gelben Büchlein eintragen lassen.

 

Herausforderung angenommen: Rechtzeitig vor dem nächsten Lockdown schaffte es der Autor im März 2021 an vier Tagen in vier Museen. Selfie: Torsten Bless

 

Lockerungen der staatlichen Maßnahmen brachten zumindest zwischenzeitliche Linderungen, mit strengen Auflagen. Ich konnte wieder in Kneipen, ins Kino oder Theater gehen und lernte die Standorte der nächstgelegenen Schnellteststationen kennen.

Mitunter nahm ich die Herausforderungen sportlich: In einer Urlaubswoche im März 2021, genau ein Jahr nach Entsendung ins Homeoffice, schaffte ich es im Wettlauf mit dem nächsten drohenden Lockdown innerhalb von vier Tagen in vier Museen mit sechs Ausstellungen, einer neuen Sammlungspräsentation und einer Multimediainstallation – für mich ein kleiner Triumph.

 

Krise und Aufbruch

Meine eigenen vier Wände waren seit jenem 13. März 2020 nicht nur mein Lebensmittelpunkt, sondern über eine sehr lange Zeit auch einzig möglicher Arbeitsplatz. Die Vorzüge des weltweiten Webs machten es möglich, dass ich mein virtuelles Potsdam auch in Berlin-Mariendorf aufschlagen konnte.

Erst über Zoom, später vornehmlich über Teams schalteten wir uns regelmäßig zu Sitzungen zusammen. Doch die geschätzten Kolleg:innen auf einem flachen Bildschirm zu treffen, war einfach nicht dasselbe. Die Kommunikation hatte bisweilen weitere Grenzen: Kleinere Missverständnisse und Konflikte konnten nicht mehr so ohne weiteres ausgeräumt werden wie im direkten Austausch.

Vor allem in der ersten Zeit musste ich um meinen im Vorjahr gerade erst angetretenen und liebgewonnenen Job bangen. Ein sicher geglaubter Auftrag nach dem anderen wurde gekündigt oder auf die längere Bank geschoben. Die gesamte Belegschaft ging in Kurzarbeit. Ich gebe zu, da durchlebte ich einige ziemlich dunkle Momente.

Dank der Umsicht unseres Chefs Carsten Hagenau und seiner damaligen rechten Hand Sabine Weinz gelang es uns, diese Monate finanziell zu überstehen. Die Kunden blieben solidarisch, die Aufträge kehrten zurück, auch meine eigene Zuversicht wuchs wieder.

Im Sommer konnten wir sogar wieder einzelne Tage im Büro verbringen. Die Höchstzahl der erlaubten Personen war beschränkt, und mitunter saß ich mutterseelenallein in der Hegelallee. Aber ich freute mich sehr über vier Wände, die mir nicht auf den Kopf zu fallen drohten.

Im Dezember konnte Carsten die verlorene Lohndifferenz ausgleichen. Mit einer von einer Praktikantin fantasievoll gestalteten virtuellen Weihnachtsfeier beschlossen wir das aufreibende Jahr 2020, jede:r Mitarbeiter:in bekam dafür sogar ein eigenes kaltes Büffet, garniert von einem leckeren mexikanischen Corona-Bier, in seine oder ihre vier Wände geliefert. Wir Ex-Kölner:innen Sabine und ich stimmten „En unserem Veedel“ an, ein Kultlied der Bläck Fööss, das den Zusammenhalt im Viertel um die Ecke beschwört.

"Ich freute mich sehr über vier Wände, die mir nicht auf den Kopf zu fallen drohten."

 

Wir begriffen die Herausforderungen als Ansporn, uns neue Territorien zu erschließen. In Fortbildungen mit der Unternehmensberaterin Anna Hoffmann stießen wir in virtuelle Welten vor, die bislang kaum ein:e PK-Mitarbeiter:in gesehen hatte.

Wir veranstalteten digitale Barcamps und Learning Journeys. Ich durfte dabei über (mittlerweile auf Eis gelegte) Großbauprojekte für den Stern referieren oder Lernveranstaltungen zu Inklusion moderieren. Auch wenn mittlerweile unser berufliches Leben wieder weitgehend in der realen Welt stattfindet, möchte ich diese neu gewonnenen Kompetenzen und Erfahrungen nicht missen.

 

Nicht meine erste Pandemie

All diese turbulenten Zeiten durchstanden wir Kolleg:innen in großer Solidarität. Da erfüllte sich eine Hoffnung, der Papst Franziskus schon am 27. März 2020 in einer Andacht auf dem menschenleeren Petersplatz mit starken Worten Ausdruck verliehen hatte: „Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind, aber zugleich wichtig und notwendig, denn alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir uns gegenseitig beistehen. Auf diesem Boot … befinden wir uns alle.“

Doch nehmen wir mal für einen Moment an, die Infektionswege wären andere gewesen, und es hätte nur einzelne Bevölkerungsgruppen, sagen wir: Minderheiten, getroffen. Das liest sich wie ein abstraktes Gedankenexperiment. Aber Corona ist nicht meine erste Pandemie.

Vor 42 Jahren, im August 1983, gelang mir mein Coming-out. Da war Aids in der damaligen BRD schon eingetroffen und wurde bald zu meinem ständigen Begleiter. In der westlichen Welt verheerte es vor allem die schwule Szene, auch Drogengebraucher:innen gehörten zu den Hauptbetroffenen. Da erkrankten und starben viele, die es bei ihrem Lebenswandel nicht anders verdient hatten. So dachte manch eine:r nicht nur in den 1980er-Jahren. Als „Unschuldige“ kamen noch Bluter hinzu, die sich mit verseuchten Konserven infiziert hatten. In anderen Regionen der Welt, in Afrika, in Asien, später in Osteuropa, schlug das HI-Virus dagegen in der Allgemeinbevölkerung große Schneisen.

Bei Corona gelten Maske, Abstandsregeln und Hygiene als wirksames Verhütungsmittel, bei HIV war es über mehr als drei Jahrzehnte hinweg einzig das Kondom. Unermüdlich verkündeten die in den Anfangsjahren vornehmlich von schwulen Männern gegründeten Aidshilfen gemeinsam mit ihren Bündnispartnern die für die meisten nicht gar so frohe Botschaft. Ich bin noch heute darauf stolz, dass „meine“ Community der männerliebenden Männer in Deutschland durch Safer Sex viele Tausende von Infektionen verhindert hat.

 

Torsten Bless als Mitarbeiter der Aidshilfe Köln im August 1997. Archivfoto: Aidshilfe Köln

 

Wirksame Medikamente kamen erst ab Mitte der 1990er-Jahre auf den Markt. Sie können HIV nach wie vor nicht heilen, aber in Schach halten, mittlerweile bei HIV-Negativen sogar eine Infektion verhindern. Einen Impfstoff gibt es nach viereinhalb Jahrzehnten noch nicht. Ende 2024 lebten nach Angaben des UNO-Programms Unaids weltweit etwa 40,8 Millionen Menschen mit HIV.

Gerade bei den Männern meiner Generation ist Aids in den entlegenen Winkeln der Hinterköpfe noch immer präsent. Ich bin da keine Ausnahme. Viel zu viele unserer Weggefährten sind im Laufe der gut vier Jahrzehnte gestorben. Die Ausgrenzung von Menschen mit HIV hat trotz aller Therapiefortschritte und Aufklärungsarbeit nicht aufgehört. Für manche sind sie „selbst schuld“. Ganz im Unterschied zu den an Covid Erkrankten.

Corona und Aids zu vergleichen, ist wie mit den Äpfeln und den Birnen. Doch habe ich gelernt, unter dem Schatten von HIV und mit Safer-Sex-Schere im Hirn gut und erfüllend zu leben. Von dieser erlernten Resilienz konnte ich auch in den Corona-Zeiten profitieren.

Immerhin: Diesmal fühlte ich mich vom Rest der Gesellschaft nicht völlig alleingelassen. Denn wie der Papst so schön sagte, saßen wir ja alle in einem Boot.

 

Das Ende aller Gewissheiten

Ganz allmählich ist mein persönliches Schiffchen wieder in ruhigere Fahrwasser gelangt. In den S-Bahnen und Trams sehe ich nur wenige Menschen mit Masken. So ab und an zappe ich im Spätprogramm noch in die Wiederholung alter Shows vor menschenleeren Zuschauerrängen.

Unsere Arbeitswelt ist flexibler geworden: Im Schnitt etwa zweimal in der Woche bleibe ich noch im Berliner Homeoffice. Ansonsten freue ich mich auf meine Fahrten nach Potsdam, verbunden mit persönlichem Austausch mit den Kolleg:innen, dem traumhaften Blick vom Schreibtisch auf das Holländische Viertel und die Baumwipfel in der Hegelallee, umrahmt von einem guten Buch in der S-Bahn.

 

"Anstelle der Pandemie beherrscht heute anderes, einst ebenso Unvorstellbares die Schlagzeilen."

 

Im Laufe der Jahre habe ich mich zwei weitere Male infiziert, beide Male mit einem sehr milden Verlauf. Ich nahm es beide Male gelassen. Niemand in meiner Umgebung achtet mehr auf Abstand.

In dieser Session feierte ich ein rauschendes Comeback als Karnevals-DJ – Fortsetzung nicht ausgeschlossen. MÄNNER-MINNE darf nicht nur proben, sondern auch Konzerte geben und auf Festivals reisen. Ich habe wieder viel meiner heißgeliebten Kunst genossen. Das in den Zeiten der erzwungenen Schließung angeschrammte Gastroleben ist aufgeblüht. Mein Lieblingsclub hat als Spätfolge allerdings gerade Insolvenz angemeldet.

Anstelle der Pandemie beherrscht heute anderes, einst ebenso Unvorstellbares die Schlagzeilen: der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Flüchtlingsfolgen, der israelische Feldzug gegen die Terrororganisation Hamas mitsamt der einhergehenden humanitären Katastrophe im Gaza-Streifen, der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Rechten bei uns in Deutschland und überall auf der Welt.

Ich durchlebe viele widersprüchliche Gefühle: zum einen die Erleichterung und Freude darüber, die akute Corona-Krise persönlich, mit meinen Freund:innen und mit den Kolleg:innen der PK als Firma bewältigt zu haben. Wir sind noch einmal davongekommen.

Doch brachten die letzten Jahre das Ende aller Gewissheiten. Was sicher und stabil erscheint, kann von einem Tag auf den anderen erschüttert oder gar vernichtet werden. Das wird bleiben und mich womöglich für immer begleiten. Ich versuche, das Beste daraus zu machen, jeden Tag aufs Neue.

 

So mag der Autor es gerne: Abendlicher Blick aus dem Bürofenster auf Hegelallee, Nauener Tor und Holländisches Viertel im August 2025. Foto: Torsten Bless

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Torsten Bless

Als Redakteur ist Torsten Bless unter anderem für das WIS-Magazin Spreewälder und die StadtSpuren-Website verantwortlich. Dazu recherchiert und textet er für weitere Magazine unserer Unternehmens- und Genossenschaftskunden.

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