You’ll never walk alone

Von der Kraft eines Mottos

I
Der Sommerempfang des Arbeitskreises StadtSpuren, den wir alljährlich organisieren, ist lokaler Pluralismus. Da treffen Unternehmens- auf Vereinsvorstände, kulturell Schaffende auf Sozialarbeiter, Wohnungsverwalter auf Verwaltungsangestellte, etablierte Politische auf Außerparlamentarische, Bürgerbewegte auf Beigeordnete. Das weite Spektrum der Gäste macht den Reiz des Empfangs aus. Natürlich ist auch der Oberbürgermeister da.

Bei so einem Sommerempfang gibt es Musik, Catering, Getränke und viele Worte, nicht nur im direkten Gespräch, sondern auch in Form von Reden. Die werden abwechselnd als Grußworte, Statements, Ansprachen oder eben als Reden anmoderiert. Immer sind sie geballte Bedeutung.

In den letzten Jahren haben wir uns angewöhnt, den Veranstaltungen ein Motto zu geben. Das hilft den Rednern, sich zielgerichteter vorzubereiten. Meist führt sie das zu einem originellen Gedanken, der nicht sofort in dem Teich ertrinkt, zu dem sich die vielen Worte des Abends sammeln. Manchmal ist der Gedanke so eigen, dass er wie Schaum auf der Oberfläche des Teiches treibt und den ganzen Abend durch die Gespräche schwimmt.

Als wir in diesem Jahr über Ort und Termin des Sommerfestes entscheiden wollten, sorgte gerade die Ankündigung von Haushaltskürzungen für Sorgen in der Stadt. Wir beschlossen daher, diesmal in einem der von Mittelstreichungen bedrohten Bürgerhäuser zu feiern. Wir wollten solidarisch sein und fragten im zentral und schön am Heiligen See gelegenen Treffpunkt Freizeit an. Schon im Sekretariat oder bei der Vermittlung scheiterten wir: Nee, ihr kommt hier nicht rein. Ihr streicht uns gerade die Mittel.

Das Missverständnis konnten wir aufklären: Nein, wir haben mit dem Haushalt der Stadt nichts zu tun und sind auch kein Teil der Verwaltung. Das war so überzeugend, dass sich kurz darauf niemand erinnern konnte, welcher der Mitarbeiter des Hauses uns eigentlich die Tür vor der Nase zugeschlagen, sie aber mindestens zugehalten hatte. Mit dieser Episode war das Motto des Abends geboren: You´ll never walk alone. Du wirst nie alleine sein.

Foto: Julius Sonntag

II
Wer von ihnen, verehrte Leser, kennt den Song? Die meisten vermutlich als Hymne des FC Liverpool. Da stehen dann Zehntausende, über ihre Köpfe die Schals stemmend, 80.000 oder 90.000, und die singen dann wie aus einer Kehle. Und sie singen wirklich. Sie brüllen nicht. Die Melodie ist eigentlich ein leichtes Schweben, als gehöre sie zu einem langsamen Tanz, einem sanften Schwingen mit Körperkontakt. Eigentlich ist das keine Hymne für zehntausende Stimmen. Es ist eine Beschwörung, ein Versprechen: You´ll never walk allone. Da versprechen Tausende einander, sich beizustehen: Niemals lassen wir dich allein. Niemals. Für immer.

1963 spielten „Gerry & the Pacemakers“ den Song in Liverpool ein. Die Band teilte sich damals mit den Beatles den Manager Brian Epstein und den Produzenten George Martin. Der Song kletterte eher unerwartet in den Charts nach oben und gelangte so ins Stadion. Die Fans machten ihn zur Hymne. Bis heute wurde das Lied von unzähligen Musikern gesungen. Frank Sinatra, Louis Amstrong, Johnny Cash, Placido Domingo, die Kelly Family, Barbara Streisand, Joan Beaz, Elvis Presley … Da füllt sich eine lange Liste, die über die Jahrzehnte und eine Vielzahl von Musikrichtungen reicht. Die Chance, wenigstens einen der Musiker oder Sängerinnen zufällig zu kennen, ist relativ groß. Meine junge Kollegin fragt, wer eigentlich Joan Beaz sei und ob man Placido Domingo kennen müsse. Auch André Rieu hat das Lied dargeboten. Unter freien Himmel, vor riesigem Publikum und wunderschöner Kulisse. Aber was hat André Rieu nicht gespielt? Mal ehrlich: Das alles spricht ja für den Song. Dieses ewig geltende Versprechen: Wir lassen Dich nicht allein.

Der Text des Liedes stammt von Oscar Hammerstein II. Der Autor war jüdischer Abstammung. Das Lied wurde für ein Broadway-Musical geschrieben: „Carousel“. Am 19. April 1945 war die Uraufführung. Ein paar Wochen zuvor war Auschwitz befreit worden. Hatte Hammerstein II die Bilder gesehen? Mir kommen sie in den Kopf und ich denke, dass wohl kaum jemand allein ins Gas gegangen ist, nur immer in Gruppen. You´ll never walk allone. Aber in den Öfen sind sie allein verbrannt. Und einsam sind ihre Seelen aufgestiegen. Sie werden gefroren haben. Das Lied konnte nur ein Versprechen sein. Wir lassen Dich nicht allein. Das nächste Mal.

III
„Carousel“ war eine Geschichte von Liebe und Mutterschaft. Im Musical kommt das Lied zweimal vor. Zählt ein zweifaches Versprechen doppelt? Fünf Tage nach der Uraufführung wurde die Potsdamer Innenstadt bei einem Bombenangriff zerstört. Es starben 1.593 Menschen.

Was versprach das Lied eigentlich den Gästen unseres Sommerempfangs? Was sollte unsere Botschaft sein? Wir lassen niemanden allein in seiner Wohnungsnot? Wir lassen niemanden allein, dem es schlecht geht? Niemanden, der Angst hat? Niemanden, der sich wegen des Krieges beunruhigt? Der nicht versteht, dass es bei der Friedensfrage gar nicht um Frieden geht, sondern um Krieg und Rechtfertigung. Auch gar nicht um eine Frage, die Antworten bedarf, sondern um Losungen, Statements und lauten Hass. Trotz der Friedensfrage (wer stellt sie eigentlich?) werden es immer mehr Kriege. Wir lassen niemanden allein, der das nicht versteht? Und das Heizen wird teurer. Die Inflation. Die ungeheuren Mieten. Unbezahlbar. Wollen wir all die nicht allein lassen, denen all das zu schaffen macht? Der Klimawandel, von Menschen gemacht. Die Trockenheit. Die Stürme. Tornados in der Eifel. Das weiße Melanom geht um. Die Künstlichen Intelligenzen auch. Keiner kann mehr im Kopf rechnen. Die Kinder lernen nicht mehr mit der Hand zu schreiben. Es fehlt an Lehrern, Soldaten und Panzern. Die Sondervermögen. Die Wehrpflicht. Die Faschisten. Die Hetzer. Die Zeitung. Sie kommt seit ein paar Tagen erst mittags oder gar nicht. Ich wollte so gerne glauben, was da drin steht. Wer lässt uns nicht allein? Hat uns keiner was versprochen?

Layout: Josephine Braun

IV
Die Toten Hosen spielen You´ll never walk allone bei jedem ihrer Konzerte. Die sind Liverpool-Fans, zumindest Bandleader Campino ist einer. Bei unserem Sommerempfang spielten das Lied Wenzel Benn und Thomas Kiesner. Die sind keine Liverpool-Fans. Zumindest bei Wenzel bin ich mir sicher, dass er das Lied vorher nicht kannte. Während wir das erste Mal darüber sprachen, schaute er bei Youtube nach. Er wurde ziemlich schnell warm mit dem Song. Später, glaube ich, beim Spielen, hat er sich ein wenig in das Lied verliebt.

Mit Motiven der Melodie führten die beiden Musiker durch den offiziellen Teil des Abends. Vor und nach dem Reden machten sie mit ihrer Musik den Sprechern Mut, die unterschiedlich selbstbewusst waren und Ermutigung gebrauchen konnten: Wir lassen Dich nicht allein. Wenzel holte die Töne aus den unsichtbaren Tiefen seines Saxophons hervor. Ein Kratzen, ein Schleifen, Ächzen und Stöhnen. Mühsam pressten sich die Töne ins Licht, wo sie auf die Klänge der Gitarre trafen, die dort auf sie warteten, um sich gemeinsam aufzurichten und Melodie zu werden. You`ll never walk allone.     

Der Oberbürgermeister hatte auch eine Rede vorbereitet. In diesen Tagen hat er viel geredet. Und gekämpft: Am Sonntag in drei Tagen sollten die Potsdamerinnen und Potsdamer über seine Zukunft abstimmen. Eine Mehrheit des Stadtparlamentes hatte ein Abwahlbegehren durchgesetzt. Mir war nicht recht, dass er auf unserem Sommerempfang Wahlkampf machen könnte. Erst recht wollte ich nicht, dass wir vor und nach seinem Auftritt You`ll never walk allone spielen. Wie hätte man das verstehen sollen? Wir lassen Dich nicht allein?

Wenzel schlug vor, stattdessen nach der Rede des Oberbürgermeisters An Englishman in New York zu spielen, und Thomas und er spielten es so unglaublich schön, dass mir die Tränen kamen. Meine Kollegin und ich standen hinter dem Vorhang und warteten auf unseren Einsatz. Sie summte und sang leise mit, I’m an alien, I’m a legal alien … Erst da merkte ich, wie viel Abschied in die Luft gelegt war. Im Geiste sah ich unseren Obermeister, der seinen Bürgern und seiner Stadt fremd geworden ist, und nun wie ein Alien durch deren Straßen lief. Wenzel behauptete später, dass das nicht als Abschiedskommentar gemeint gewesen sei. Er habe gar nicht gewusst, worüber am Sonntag abgestimmt werden sollte.

V
Der Sommerempfang war schön. Das Essen wurde gelobt, die Musik und die Musiker ebenso. Das Wetter war außerordentlich. Die Servicekräfte bewegten sich zuvorkommend zwischen den Tischen und Gästen. Gelobt wurde auch, dass alle Redner das Motto so schön aufgegriffen haben, unterschiedlich auch, Variationen zum Thema. Manches schwamm sogar einen Moment lang als Schaum auf dem Wortteich des Abends.

Die letzten Gäste gingen, als es keinen Wein mehr gab. Sechs Flaschen hatten die Caterer dagelassen, ehe sie gegangen waren. Das hatte noch eine Stunde gereicht. Es war lange nach Mitternacht, als ich auf dem Weg nach Hause dachte: Am Ende gehst Du dann doch allein. Naja, nicht ganz. Du hast ja Dein Fahrrad.

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