Kann uns ein Förderwettbewerb vor der Spätsommer-Melancholie retten?

Auf dem Johannes-Kepler-Platz am Stern herrscht an diesem Spätsommer-Wochenende buntes Gewimmel. Die Menschen haben ihre Wohnungen verlassen und sind auf den Festplatz geströmt – der Sonne entgegen. Die strahlt bereits mit voller Kraft auf den Steinboden, der die Energie aufnimmt und wie eine Wärmeplatte speichert. Noch fehlen schattenspendende Bäume: Die Planungen für die Umgestaltung des Platzes haben sich verzögert.
Eben hatte die Masse noch getobt. Till der Schotte, ein ebenso skurriler wie begabter Mann mit kahlrasiertem Kopf und athletischem Körper, zog die Zuschauer mit seiner „Comedy-Artistik auf Rollschuhen“ in den Bann. Begleitet wurde seine Performance von einem schrillen, verblüffend mitreißenden Kommando-Ton. Till dirigiert die Zuschauer gekonnt, beinahe willenlos lässt sich die Menge zu allerlei Mitmach-Aktionen verleiten. Martin, ein junger Mann aus dem Publikum, kommt auf die Bühne, Till legt einen Apfel auf Martins Kopf. Ich kann nicht sehen, was dann passiert. Die Menge johlt und klatscht.

Jetzt ist die Bühne wieder leer. Die Menschen sitzen – gelöst vom Bann des Schotten – auf den Bierbänken, essen Bratwurst und unterhalten sich. Die Kinder spielen, die Oberbürgermeisterkandidaten verteilen Gummibärchentüten. Über den Platz haucht sanft und zugleich kratzig die Stimme von Sven Regener, Pausenmusik:
Wir haben viel zu lang geschlafen
Und ich erwache zögernd nur
Aus einem viel zu dunklen Traum
Und ich erinnere mich kaum
An die einst vertrauten Gesten
Und wie die Worte nochmal geh’n
Die uns sagen es ist gut
Narzissen und Kakteen
Wärme durchflutet meinen Körper – und eine milde Wehmütigkeit. Die Sonne steht schon tief, ihre Strahlen haben aber noch immer viel Kraft. Seltsam, denke ich: Hier stehe ich, auf dem Johannes-Kepler-Platz, beim Stadtteilfest am Stern, am Stand eines kommunalen Wohnungsunternehmens, wo ich gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der ProPotsdam den Votingstart von „ProPotsdam – Gemeinsam FÜR Potsdam“ feiere (ein Förderwettbewerb, den wir als Agentur seit vielen Jahren organisieren) – und dann wird die „melancholisch-chansoneske Pop- und Rockmusik“ von Element of Crime gespielt, der Sound meiner Jugend!
Und wir entsinnen uns bewundernd
Jener Unverwüstlichkeit
Die unser Leben einmal hatte
Und wie einfach alles schien
Als wir noch viel zu wenig wussten
Narzissen und Kakteen

Die Merchandise-Artikel an unserem Stand sind fast alle. Geduldig stehen wir hinter der Auslage, hören den Menschen zu, beantworten Fragen, lächeln und wünschen viel Spaß. Neben uns stapeln Kinder bunte Plastik-Bausteine zu Türmen und Mauern aufeinander, die dann krachend wieder zusammenbrechen. Ich bewundere die Energie, mit der die Kids sofort beginnen, nach dem Zusammensturz etwas Neues zu errichten. Nicht lange nachdenken, einfach weitermachen. Zu viel Nostalgie wirkt lähmend – sie verführt zur Untätigkeit.
Wehmut ist eine abgeschwächte Form von Nostalgie, überlege ich. Eine weniger gefährliche. Man wünscht sich den vergangenen Zustand nicht zurück, will nicht aus der Gegenwart fliehen. Man erinnert sich des Verlorenen zwar im traurig-lächelnden Bewusstsein der Unwiederbringlichkeit, doch gleichzeitig ist da ein tiefes und warmes Gefühl von Dankbarkeit. Um zu verhindern, dass die Wehmut umschlägt in Nostalgie, hilft es, sich der produktiven Kraft jener traurig-schönen Emotion bewusst zu werden. Was ist Produktivität? Aktiv gewordene Empfänglichkeit (hat Thomas Mann irgendwo geschrieben), geboren aus Dankbarkeit für das Leben selbst, in all seinen Facetten, für den unaufhörlichen Wechsel von Werden und Vergehen.
Damit etwas entstehen kann, das uns Freude für die Gegenwart und Mut für die Zukunft schenkt, müssen wir aktiv werden. Etwas gestalten – auch unser Zusammenleben. Aktiv werden, mitmachen: Geht es nicht genau darum auch beim Förderwettbewerb der ProPotsdam, bei den Vereinen und gemeinnützigen Organisationen, die etwas bewegen möchten – für die Stadt, für die Menschen, die hier leben? Klingt irgendwie abgedroschen, aber es stimmt: Wer sich nicht einbringt, der braucht auch nicht zu jammern, wenn sich nichts verändert. Dem bleibt nichts weiter, als sehnsüchtig einer verklärten Vergangenheit hinterherzuschauen.

Die Kiste mit den Jutebeuteln ist leer. Auf dem Tisch liegen nur noch ein paar Buntstifte, Ausmalbögen und Flyer. Ich schaue nochmal rüber zur Fahne mit dem großen Smiley. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen durch das feinporige Mesh-Gewebe der Beachflag, die sich langsam im warmen Wind bewegt.
Wenn du lächelst hat die Zukunft
Ihren Schrecken eingebüßt
Wenn du weinst ist alles Elend
In deinen Tränen aufgelöst –
Und wer weint hat niemals Unrecht
Und wer lächelt schon wie du
Das hab ich lange übersehen
Narzissen und Kakteen