Julius Sonntag denkt nach über die Debattenkultur in Zeiten des Krieges
Menschen, denen die Welt eindeutig erscheint, misstrauen dem Semikolon; sie empfinden es als „ein verdächtiges Satzzeichen“, das zumindest behauptet der Journalist Hauke Goos im August 2020 in seiner Kolumne „Schöner schreiben“. Darin beschäftigt er sich mit Thomas Mann, der bekanntlich nicht nur schön schreiben konnte, sondern auch ein „Meister des Strichpunkts“ gewesen ist (Spiegel online, 17.08.2020).
Vielleicht ist es kein Zufall, dass Goos das Thema gerade zu jenem Zeitpunkt behandelt. Es ist die Zeit der Corona-Debatten. Zwar ist die Welt nie komplizierter gewesen, betrachtet man aber die damaligen Diskurse, so fällt auf, dass sich (scheinbare) Eindeutigkeit und Schwarz-Weiß-Denken (und damit auch der Tonfall) innerhalb der Meinungslager auf erschreckende Weise zugespitzt haben. Wer an einzelnen Aspekten der Corona-Politik zweifelte, der war schnell ein Querdenker; wer die Maßnahmen für sinnvoll und notwendig hielt, wurde umgehend als Mitläufer und Obrigkeitshöriger eingestuft. Dazwischen schien es nur wenig zu geben.
Das Semikolon ist wohl in beiden Lagern nicht beliebt gewesen. Dabei ist dieses Satzzeichen, wie Hauke Goos betont, „ein sehr zeitgemäßes“, weil „weniger eindeutig“. Das Semikolon steht, so könnte man sagen, für einen Aufschub. Es verzögert das Ende, misstraut der Finalität, signalisiert, dass der Gedankenprozess noch nicht abgeschlossen ist. Es wird nicht selbstbewusst und selbstgewiss ein Punkt gesetzt – so ist das –, sondern ein Möglichkeitsraum eröffnet: für Einwände, für Fragen, für Differenzierungen.
Es ist also kein Wunder, dass das Semikolon etwas aus der Mode gekommen ist. In einer Gegenwart, die so unübersichtlich ist, dass viele Menschen Eindeutigkeit herbeisehnen und sich zu Vereinfachungen hinreißen lassen, erscheint es als exotisches Relikt einer Vergangenheit, deren Aufmerksamkeitsspanne noch für mehr als 280 Zeichen reichte.
Das Semikolon ist dem Zögern verwandt. Ebenso wie das unbeliebte Satzzeichen, das den Text stets zu verkomplizieren droht, steht das Zögern im Verdacht, eine Ausweichbewegung zu sein, die das Handeln behindert. In diesem Sinne kritisierte Johannes Teyssen, ehemaliger Chef des Energiekonzerns E.ON, im Frühjahr 2021 im Interview mit der FAZ das Zögern als deutsche Eigenart: „Wir sind heute Weltmeister im Bedenkensuchen“, so seine Diagnose. Dagegen müsse etwas unternommen werden, fordert Teyssen: „Wir dürfen nicht das Volk der Skeptiker und Zauderer bleiben, wir müssen wieder zur Nation der Erfinder und Macher werden.“ (21.03.2021, S. 28, Hervorhebungen JS)
Teyssen bedient damit das beliebte Klischee vom „Macher“, der – im Gegensatz zum „Bedenkenträger“ – für Tatendrang und Innovation steht, während der Zweifler die Tat mit seinem Nachdenken blockiert (ein Motiv, das auch in aktuellen Debatten um die politische Rhetorik eine Rolle spielt). Dass er die Deutschen als Volk der „Skeptiker und Zauderer“ bezeichnet, ist dabei nicht besonders verwunderlich, immerhin galten sie über Jahrhunderte als das Volk der Dichter und Denker. Und wer viel denkt, so könnte man sagen, der zögert auch eher.
Das Wort „Macher“ tauchte 2022 auch in der Top Ten von Wörtern auf, die der Langenscheidt-Verlag auf der Suche nach dem Jugendwort des Jahres zusammengestellt hat. Die Erklärung dazu lautete folgendermaßen: Ein Macher sei „jemand, der Dinge umsetzt, ohne zu zögern“. Ein Wort, das Jugendliche verwenden, um „Respekt und Zuspruch auszudrücken“, wie die MAZ damals kommentierte (22.08.2022, S. 18, Hervorhebungen JS).
Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl hat in seiner (2007 publizierten) Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin den Versuch unternommen, das „Zaudern“ als produktive Methode zu beschreiben und den Begriff gegen sein schlechtes Image zu verteidigen. Er stellt dabei fest, dass es eine „abendländische Tradition“ gebe, die das Zaudern „auf die Seite der Unentschlossenheit“ nötigt und es damit „disqualifiziert“. „Das Zaudern“, so Vogl, „begleitet den Imperativ des Handelns und der Bewerkstelligung wie ein Schatten, wie ein ruinöser Gegenspieler“. Innerhalb von „Handlungsketten“ markiere es „ein Stocken, eine Pause, ein Anhalten, eine Unterbrechung“ (Über das Zaudern, Zürich/Berlin 2007, S. 30 f.). Den Ursprung dieser abwertenden Sicht auf das Zaudern sieht Vogl in der „entfernte[n] Verwandtschaft zum Laster oder zur Sünde der Trägheit“ (S. 134).
2010 veröffentlicht Tocotronic, die wohl nachdenklichste deutsche Indierock-Band, den Song Im Zweifel für den Zweifel, ihre berühmte Hymne an das Zaudern: Im Zweifel für den Zweifel / Das Zaudern und den Zorn, so beginnt Sänger Dirk von Lowtzow das Stück mit dem programmatischen Titel, das „Uniform“ und „Normativität“ anprangert, die „Pubertät“ und „Ziellosigkeit“ feiert und „für die Zwischenstufen“ wirbt.
Doch alle Versuche, das Zweifeln, Zögern und Zaudern zu rehabilitieren, scheinen vergeblich gewesen zu sein: Die Begriffe werden ihr negatives Image nicht los. Seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine – heute vor genau einem Jahr – erleben die drei Wörter (die häufig synonym verwendet werden) eine Art Renaissance im öffentlichen Diskurs. Anlass für die Verwendung ist zumeist die Debatte um die Lieferung von Waffen an die Ukraine, die – ähnlich wie die Themen Corona oder Gendern – oft zu einer deutlichen Verschärfung des Tons führt.
Zentral scheint mir dabei die zunehmende Berufung auf Moral zu sein, die sich – im Falle der genannten Begriffe – mit jener abendländischen Tradition der Abwertung des Zauderns (und seiner Geschwister) verbindet. Wenn davon gesprochen wird, dass der Kanzler „zögert“ bzw. „zaudert“ (Thomas Reichart etwa bezeichnete Scholz, ganz im Sinne von Johannes Teyssen, als „deutschen Zauder-Lehrling“, ZDF, 12.06.2022), dann ist damit nicht gemeint, dass er eine potenzielle Handlung überdenkt, differenziert betrachtet, mögliche Risiken abwägt, sondern dann geht es in der Regel um eine klare moralische Wertung: der Kanzler sollte nicht zögern, denn – so die scheinbar zwingende kausale Verknüpfung – sein Zögern kostet Menschenleben (dass andersherum die Handlung ohne Zögern ebenso Menschenleben kosten kann, ist hingegen seltener zu hören).
Es soll hier nicht darum gehen, zu entscheiden, welche Position die moralisch richtige ist. Ich möchte lediglich einige Beobachtungen beschreiben, die (im Sinne einer Metaperspektive) die Debatte selbst in den Blick nehmen und sich der Frage widmen, welche Schlüsse sich aus den aktuellen Diskursen hinsichtlich ihrer Kommunikationsweisen ziehen lassen. Der „wachsende moralische Rigorismus“ (Harald Welzer, ZEIT, 22.09.2022, S. 10), der sich beispielhaft an den Debatten um die Waffenlieferungen an die Ukraine ablesen lässt, macht einen diskursiven Mechanismus erkennbar, der zunehmend eine Gefahr für eine demokratische Debattenkultur darstellt – so formulierte es kürzlich Andreas Rödder, Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission, in einem Kommentar im Tagesspiegel.
Rödder beschreibt diesen Mechanismus in seinem Text als eine Art Rezeptur, die sich auf jeden denkbaren Konflikt übertragen ließe (Ausgangspunkt seines Kommentars ist die Auseinandersetzung der CDU-Führung mit Hans-Georg Maaßen). Man nehme, so Rödder, „die entscheidende Dosis Moralin hinzu, indem man sie mit Begriffen verbindet, die sprachliche Assoziationen bewirken“; als Beispiel nennt er „menschenfeindlich“. Diese bewusste Verbindung sorge nun für eine moralische „Stigmatisierung“ des so Bezeichneten, und damit zu einem „Ende der Debatte“. Auf diese Weise könnten unliebsame Positionen „delegitimiert werden, um die Auseinandersetzung über den Gegenstand zu verhindern“. (Tagesspiegel, 15.02.2023, S. 5)
Indem der vermehrte Einsatz von „Moralin“ eine sachliche Auseinandersetzung mit den zur Diskussion stehenden Inhalten blockiert, befördert er zugleich ein Schwarz-Weiß-Denken, das auf Differenzierungen verzichtet und – ohne zu zögern – zu eindeutigen Urteilen kommt. Es entsteht (so drückte es der Philosoph Andreas Urs Sommer im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur aus; 04.05.2022) eine „moralische Verengung der Diskussion“, wie sie sich „in ähnlicher Weise auch während der Coronapandemie gezeigt“ habe. Diese Einschätzungen decken sich mit zeitdiagnostischen Befunden, die seit geraumer Zeit in den Feuilletons der Leitmedien zu lesen sind: Wir leben in einer „Erregungsgesellschaft“ (Steffen Mau, ZEIT, 22.09.2022, S. 29), in einer „gesinnungsethisch entfesselten“ Welt (Richard David Precht, ebd., S. 10).
In jener „Erregungsgesellschaft“ wird das Zögern nicht nur moralisch abgewertet, es scheint auch methodisch nicht mehr in eine Gegenwart zu passen, in der die Beschleunigung der Reaktionszeiten zum Kennzeichen einer digitalen Leistungsgesellschaft geworden ist. Die Schnelligkeit der Reaktion geht dabei häufig eine gefährliche Verbindung ein mit der Eindeutigkeit der Position. Man könnte auch sagen: Die Beschleunigung der Reaktion bedingt einen Verlust an Differenzierung – denn für diese fehlt schlicht die Zeit. Die Mechanismen der sozialen Medien unterstützen diese Entwicklung.
„Anstatt den Fluss von Informationen zu verlangsamen, weil diese überprüft […] werden“, schreibt der US-amerikanische Autor Jonathan Rauch, „belohnen die digitalen Medien Unmittelbarkeit und Impulsivität, Emotionen statt Sachlichkeit“ (Spiegel, 09.10.2021, S. 46).
Das gesellschaftspolitische Gefahrenpotenzial dieser Tendenzen wird erkennbar, wenn man die strukturellen Parallelen zwischen den diskursiven Praktiken jenes moralisierenden Kommunikationsstils und den Methoden populistischer Akteure und Parteien betrachtet. Was beide – bei aller inhaltlichen Entfernung – eint, ist das Bedürfnis nach Vereinfachung, Eindeutigkeit und schneller Handlung. Anders gesagt: Je komplizierter die Weltlage, desto stärker wird offenbar die Anfälligkeit für Simplifizierungen und der Wunsch nach einer schnell handlungsfähigen Führung. Die „Trägheit der Demokratie“ treffe heute – wie Robert Pausch und Bernd Ulrich in der ZEIT (25.08.2022, S. 4) bemerkten – „brutal auf die Tempokratie der Krise“. Die großen Verunsicherungen der Gegenwart bieten dabei vielfältige „Gelegenheitsmärkte für Polarisierungsunternehmer“, warnte der Soziologe Steffen Mau (ZEIT, 22.09.2022, S. 29). In Krisenzeiten nimmt auch die „Attraktion des Autoritären“ zu (ZEIT, 03.02.2022, S. 3).
Wenn man sich klar macht, dass das Zweifeln, Abwägen und Diskutieren zum Kern demokratischer Debattenkultur gehört, wird deutlich, welche Gefahr dem System durch die Abwertung des Zögerns entsteht. Es ist jene „entfernte Verwandtschaft zum Laster oder zur Sünde der Trägheit“ (Joseph Vogl), die dadurch aufgerufen wird und die – parallel zur Staatsverachtung von Reichsbürgern, Querdenkern und anderen Extremisten – die Demokratie in die Nähe des Lasters rückt und sie damit (indirekt) zur trägen Schwester des Zauderns erklärt. Die Diskreditierung des Zweifels (und des durch das Zögern bedingten Handlungsaufschubs) kann somit die Attraktivität autoritärer Systeme stärken. Der Wunsch danach, die Deutschen mögen wieder ein „Volk der Macher“ werden (wie ihn Johannes Teyssen äußerte), ist – so meine ich – nicht sehr weit entfernt vom Ruf nach dem „starken Mann“, der die endlosen Debatten beendet und handelt, ohne zu zögern. Olaf Scholz erscheint in dieser Perspektive als negative Gegenfigur – als „Scholz, der Zauderer“ (Thomas Reichart, ZDF, 12.06.2022).
Die Verengung des Blickwinkels innerhalb der Debattenkultur wird gerne mit der Redewendung vom „Schwarz-Weiß-Denken“ beschrieben. Schwarz und Weiß stehen dabei für eindeutige Positionen, die keine Zwischen(farb)töne zulassen. Bemängelt wird dann mitunter das Fehlen von Graustufen. Dass man diese Farbcodierung auch auf größere Zusammenhänge übertragen kann, hat der Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk gezeigt, der in seinem Buch Wer noch kein Grau gedacht hat (2022) eine spezifische „Farbenlehre“ entwickelt, mit deren Hilfe er bestimmte politische Entwicklungen beschreibt. Die „Sammlung der Graumotive“ bilde, so Sloterdijk im Interview mit der ZEIT (28.04.2022, S. 57), „in der Summe so etwas wie eine Freiheitslehre, die Befreiung von starkfarbigen Illusionen betreffend.“ Freiheit werde gewonnen „durch ‚Verringerung des Illusionsbedarfs‘“, wie er unter Rückgriff auf eine Formulierung von Odo Marquardt erklärt.
Erst die Hinwendung zu den Graustufen ermöglicht (wenn man Sloterdijks Argumentation folgt), einen hinreichend differenzierten Blickwinkel. Die Verabschiedung vom „Starkfarbigen“, das sich letztlich immer als Illusion herausstellt, kann Verengungen aufbrechen und eine Sichtweise entstehen lassen, die der Komplexität aktueller Problemlagen Rechnung trägt. Patrik Schwarz hat kürzlich in der ZEIT (12.01.2023, S. 1) eine „Sortenreinheit der Sichtweisen“ kritisiert, die im „Rechthaber-Raum der politischen Meinungsbildung dominiert“. Diese habe „mit den Gemischtwaren-Zuständen der Welt wenig gemein“. Die Welt ist nicht schwarz-weiß; und die Wahrheit verbirgt sich im Zwielicht.
Ein Mittel, das gegen die Einseitigkeiten innerhalb politischer Debatten helfen könnte, wäre eine Aufwertung des Zweifels, eine neue Scheu vor schnellen Urteilen, ein Abbau ideologischer Blickverengungen. Die „Rechthaber-Schlachten“ (Patrik Schwarz, ebd.) können nur enden, wenn es gelingt, die Formen der Kommunikation zu verändern. Doch dafür müssen bestimmte destruktive Diskursmechanismen zunächst als solche erkannt werden.
Was wir brauchen, ist eine Bereitschaft zur Analyse und, darauf aufbauend, „eine diskursive Ertüchtigung“ (dies forderten im Rückblick auf die Corona-Debatten die Wissenschaftler Uli Sann und Frank Unger in der ZEIT, 28.04.2022, S. 11). Sophie Passmann wünschte sich in Bezug auf die identitätspolitischen Debatten mehr „Sanftheit“ und mehr „Empathie“. Die Voraussetzung dafür fasst sie so zusammen: „zögern und zaudern und zweifeln“. (ZEIT, 17.11.2022, S. 51, Hervorhebungen JS) Insbesondere in „großen Krisen“ seien „Zweifel wichtig“, betont Richard David Precht (ZEIT, 22.09.2022, S. 10). Noch deutlicher verteidigt der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank den Zweifel in der FAS (21.02.2021, S. 20): „Der Zweifel macht uns zu souveränen Menschen und ermöglicht Individuation.“
Wie es gelingen kann, den Zweifel als produktives Prinzip zu verstehen, hat Joseph Vogl in seiner oben bereits zitierten Antrittsrede gezeigt. Er lenkt den Blick auf die „aktive Seite des Zauderns“. Diese „umschließt eine idiosynkratische Genauigkeit, eine Idiosynkrasie gegen die Festigkeit von Weltlagen, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Eindeutigkeit von Lösungen“ (S. 135). Das Zaudern hege einen „Komplexitätsverdacht“ (ebd.) und rege damit „einen spezifischen Gefahrensinn“ an (S. 138). Durch das Zaudern werde die Gegenwart „gedehnt und verbreitert und gewinnt eine Gestalt, die nun keineswegs unvermeidlich […] erscheint.“ (S. 140) Letztlich, so könnte man sagen, kann der Zweifel als „spezifische[r] Gefahrensinn“ schützen vor der Verlockung der Eindeutigkeit und auch vor der „Versuchung des Autoritären“ (ZEIT, 03.02.2022, S. 3).
Um dem Reiz der schnellen Reaktion zu widerstehen, die Einseitigkeiten begünstig, kann es helfen, gezielt Tempo herauszunehmen. Dazu rät (in Bezug auf „Infodemien“ im Netz) auch Joseph Vogl. Im Interview mit der FAS (14.03.2021, S. 34) empfiehlt er: „Friktionen erhöhen, Geschwindigkeit reduzieren, Abkühlzeiten einschieben, Pausen verlängern, Rauschen verstärken, Kreisläufe stören, Automatismen unterbrechen, Abschalten.“ Eine Methode, die sicherlich auch der aktuellen Debattenkultur zugutekommen würde.
Ähnliches empfiehlt der Journalist und Autor Simon Strauß in einem Kommentar auf Deutschlandfunk Kultur (11.01.2023), worin er die „Reiz-Reaktions-Mechanismen in Zeiten des Digitalkapitalismus“ betrachtet. Das Gefährliche an diesen Mechanismen sei, „dass sie rasend schnell unbewusst werden: Wer sich für Friedensverhandlungen mit Russland ausspricht, kann nur ein Putin-Verehrer sein, wer für Waffenlieferungen plädiert, ist ein von der Rüstungsindustrie bezahlter Kriegstreiber“. Strauß plädiert deshalb dafür, auch mal „dem Reiz der direkten Meinungsäußerung zu widerstehen“ und damit den „Reiz-Reaktions-Mechanismus zu durchbrechen“. Dies wäre, so Strauß, „fast schon ein anarchistischer Akt, ein wirklich emanzipatorisches Verhalten.“ In jedem Fall würde die bewusste Unterbrechung, das Einschalten von „Abkühlzeiten“, Raum schaffen für Zweifel.
Der Sinn des Zauderns – ich zitiere noch einmal aus der Antrittsvorlesung von Joseph Vogl – liege „in einer Deaktivierung“, „in einer interrogativen Kraft“. Es lasse sich „als latenter, insistierender Vorbehalt“ verstehen (S. 51). Seine produktive Kraft gewinnt das Zaudern also dadurch, dass es einen Möglichkeitsraum schafft, in welchem die Tat reflektiert werden kann, bevor sie „ereignishaft“ (ebd.) wird. Das Zaudern führe „in eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Ja und Nein“, es eröffne „eine Zwischenzeit, in der sich die Kontingenz des Geschehens artikuliert“ (S. 73).
Es ist sicherlich kein Zufall, dass dieser Versuch einer Aufwertung des Zauderns von einem Literaturwissenschaftler formuliert worden ist. Die Literatur sensibilisiert wie kaum eine andere Kunstform für die Komplexität von Welt- und Gefühlslagen. Sie ist gewissermaßen die natürliche Feindin der Eindeutigkeit, sie lehrt uns, aufmerksam zu sein für die Zwischentöne und Graustufen, für die Mehrdimensionalität jedes Geschehens und jeder Person. Das Mehrdeutige ist ihr Feld, die Ambivalenz ihre „eigentliche Voraussetzung“ (schreibt Julia Encke in einer Rezension zu Helene Hegemanns Buch über Patti Smith, FAS, 26.09.2021, S. 36). Der Schriftsteller Ingo Schulze beschreibt es so: „In der Literatur gibt es die Möglichkeit, die Gegensätze nebeneinander stehen zu lassen, also das Widersprüchliche, die Uneindeutigkeit, die ja zum Leben gehören, nicht zu tilgen.“ (MAZ, 01.10.2022, S. 11)
Aber auch der Blick auf andere Kunstformen könnte dabei helfen, den Blick zu weiten und zu lernen, das Uneindeutige auszuhalten. Lars Weisbrod hat auf einen Aspekt aktueller Serien aufmerksam gemacht, den man als Beleg dafür lesen könnte, dass uns Komplexität und Ambivalenz eigentlich wichtig sind: „In Fernsehserien neuerer Prägung interessieren wir uns für Grauzonen, für Antihelden, für gute Leute, die böse werden, oder für böse Leute, die uns trotzdem sympathisch sind.“ (ZEIT 01.09.2022, S. 53) Diese Tendenz zum Abgründigen, Ambivalenten und Selbstreflexiven lässt sich auch in der Pop-Musik beobachten, etwa an dem 2022 veröffentlichten Song Anti-Hero von Taylor Swift. Vielleicht können wir etwas von diesem Interesse herüberretten in eine künftige Debattenkultur.
Als Literaturwissenschaftler bin ich kein Freund der Eindeutigkeit – ich misstraue ihr zutiefst. Sie langweilt mich auch. Und manchmal macht sie mir Angst, zum Beispiel dann, wenn ich ihr Vordringen in die politischen Debatten unserer Zeit beobachte. Deshalb wünsche ich mir mehr Aufmerksamkeit, mehr Wachsamkeit für die mitunter gravierenden Folgen einer zweifelsfreien Kommunikation. Wir sollten wieder mehr zögern, offener sein für andere Perspektiven, nicht jedem Reaktions-Impuls sofort nachgeben, weniger schnell urteilen und verurteilen. In der Berliner Morgenpost (02.10.2022, S. 19) hat Wolfgang Thierse auf die Relevanz einer Erneuerung der Debattenkultur hingewiesen: „Die Zukunft unserer Pluralität entscheidet sich an der Art und Weise, wie wir unsere Differenzen austragen.“
Es ist nicht immer einfach, in den „politischen Deutungsschlachten“ (ZEIT, 10.11.2022, S. 1) den Überblick zu behalten; und erst recht nicht, einen kühlen Kopf zu bewahren. Aber versuchen sollten wir es. Und dabei ein wichtiges Prinzip nicht vergessen, es lautet: im Zweifel für den Zweifel.