DER
HAGE
NAUER

Ein alter Bügel

Ein einfacher Gegenstand - mit einer gar nicht so einfachen Geschichte. Foto: Carsten Hagenau

 

Ein einfacher Bügel
Das Holz vergraut, die Oberfläche trocken und rissig. Der Draht strapaziert, vom Rost gedunkelt, in den Jahren mindestens einmal verbogen und wieder in Form gebracht. Auch wenn der Bügel etwas schief hängt, er hält die Wäsche noch allemal. Nur mit empfindlichen Stoffen sollten wir vorsichtig sein. Meine Frau meint, ich solle den Bügel wegwerfen.

Der Bügel trägt eine Aufschrift. Schwarze Druckbuchstaben, an einigen Stellen verblasst oder abgegriffen: „Gebr. Simon“. Die Schrift wirkt nicht unmodern. Hinter dem Namen steht „Limburg“ und in eckigen Klammern „Lahn“. Wie der Bügel in unseren Potsdamer Haushalt gekommen ist, wissen wir nicht. Wir können uns nicht erinnern, dass wir selbst oder ein Verwandter je in Limburg waren, um im Kaufhaus der Gebrüder Simon ein Stück Bekleidung samt Bügel zu erwerben.

Der Bügel ist ziemlich alt. Älter als wir, wie es aussieht. Einer unserer älteren Verwandten könnte mal in Limburg gewesen sein. Aber wer weiß schon, was unsere Familien so getan haben, die Großväter, Großonkel, Großtanten, Großmütter … Wir wissen von all diesen Großverwandten wenig bis nichts, auf jeden Fall nicht, ob sie einmal an der Lahn waren und bei dieser Gelegenheit den Bügel in unserer Familie in Umlauf gebracht haben, was ihn bis in unsere Hände geführt hat.

 

Was aber,
wenn der Bügel gar nicht gekauft, sondern einfach mitgenommen wurde? Will sagen: Was, wenn der Bügel nicht ganz legal in unseren Besitz gelangt ist? Zurückgeben können wir ihn nicht. Das Kaufhaus der Gebrüder Simon in Limburg gibt es nicht mehr. Seit 1901 war es von Jacobine und Hermann Goldschmidt betrieben worden. Jacobine war eine geborene Simon. Ihre jüdische Familie betrieb die Textil- und Konfektionskaufhäuser Gebrüder Simon in verschiedenen Städten, von Andernach bis hin nach Suhl.

Vielleicht war es Brauch, dass die Kaufhäuser der Gebrüder Simon selbst für ihre Bügel sorgten. Dann hat sie vielleicht Hermann Goldschmidt bestellt. Spezialisierte Bügelhersteller gab es in Deutschland erst seit 1878, die ersten in Berlin. Damals galten Bügel als Luxus. Zu Beginn des Jahrhunderts sicher noch als vornehm. Vielleicht hat Goldschmidt sie bei einer der umliegenden Tischler- oder Böttcherwerkstätten fertigen lassen. Konnten die damals schon Holz bedrucken? Wenn es tatsächlich die Goldschmidts waren, die die Bügel zum Start ihres Geschäftes beschafften, dann wäre unserer mehr als 120 Jahre alt.

Die Goldschmidts waren fleißige Leute. Er engagiert sich im Israelitischen Männer-Wohltätigkeitsverein, viele Jahre als dessen Vorsitzender. Sie kränkelt in späten Jahren. Die Medizin, die sie braucht, ist teuer, aber sie können sie sich leisten. Als beide schon an die 60 Jahre sind, nehmen die Eheleute ihre jung verwitwete Nichte Grete Moses im Hause auf und mit ihr die gerade erst ein paar Monate alte Liane. Sie wird zum „Sonnenstrahl“ des kinderlosen Ehepaares. 1935 kommt das Kind in die Schule. Zu diesem Zeitpunkt war Mutter Grete schon vor den Nazis in die Niederlande geflohen.

 

Ein Foto von Liane
ist erhalten geblieben. Die Aufnahme zeigt nicht die übliche Frontale auf einen inszenierten Moment. Das Mädchen ist von der Seite aufgenommen, die Arme liegen in ihrem Schoß. Sie sieht aus, als wenn sie gerade eben noch getobt hätte und eher widerwillig innehält. Sie ist vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Ihr Haar ist dicht, widerspenstig, geradezu eine Mähne. Eine ausgeprägte Mundpartie und wache Augen. In ihrem Blick liegen leichter Spott oder eine Spur von Unglauben. Sie traut dem Moment nicht. Vielleicht auch nicht dem Menschen hinter der Kamera. Ihr Körper ist gespannt. Als sei sie jederzeit bereit aufzuspringen und wegzulaufen.

Am 9. November 1938 werden das Kaufhaus und die Wohnung der Goldschmidts geplündert. Vielleicht wird der Bügel bei dem Überfall auf die Straße geworfen, sind Stiefel draufgetreten, hat ihn irgendjemand mitgenommen. Er hätte auch verbrennen können. Die Goldschmidts müssen nach jener Brandnacht Limburg verlassen und nach Frankfurt ziehen. Die Geschichte des Textil- und Konfektionshauses Gebrüder Simon in Limburg an der Lahn, Bahnhofstraße 12, ist damit beendet.

 

Anders
die des Kaufhauses der jüdischen Familie Löwenberg am Neumarkt 1: Es wird vom Textil-Unternehmen Vohl & Meyer übernommen und heute noch immer betrieben. Es ist überliefert, dass die Löwenbergs schon vor der Brandnacht an Vohl & Meyer verkauft haben, dann aber erst die Schäden reparieren lassen mussten, ehe die Arier das Kaufhaus bezogen. Auf der Homepage von Vohl & Meyer gibt es eine Chronik: 1908 gegründet, erst 1946 der nächste Eintrag über den schweren Neuanfang. Und so weiter. Alles in allem eine Geschichte von Erfolg und aufopferungsvoller Arbeit. Eine deutsche Erfolgsgeschichte, die die Übernahme des jüdischen Kaufhauses nicht vermerkt. Das darf nachdenklich machen. Sicher war alles rechtens, hatte alles seine Ordnung, ist längst alles geprüft. Aber das lässt erst recht die Frage zu: Warum ist der Bezug der guten Adresse am Neumarkt 1 im Jahre 1938 nicht erwähnt? An die Löwenbergs erinnert heute ein Stolperstein vor dem Kaufhaus. Die Seniorchefin von Vohl & Meyer, so erinnert man sich, war dabei, als der Stein 2014 gesetzt wurde. An anderen Orten haben Hauseigentümer versucht, Stolpersteine zu verhindern.

Sicher haben diese Vorgänge nichts mit den Bügeln der Gebrüder Simon zu tun. Vielleicht aber doch. Die drei Textilkaufhäuser – Simon, Löwenberg, Vohl & Meyer (und vielleicht gab es ja in Limburg noch mehr) – eiferten um die Gunst der Kunden und da kam Hermann Goldschmidt auf die Idee, Bügel mit seinem Firmennamen produzieren zu lassen. Die gab er den zufriedenen Kunden mit, damit sie, wenn sie den Kleiderschrank öffneten, an das Kaufhaus der Gebrüder Simon erinnert werden. Aber es könnte auch sein, dass Goldschmidt das gar nicht selbst eingefallen ist. Er hat es nachgemacht, weil Vohl & Meyer, Löwenberg oder ein anderer damit angefangen hatte. Fest steht: Spätestens 1938 hatten die Goldschmidts die letzte Gelegenheit, ihre eigenen Bügel produzieren zu lassen. Demnach wäre der unsere älter als 80 Jahre.

 

Anfang der 30er
hatte Limburg fast 300 jüdische Einwohner, nach der Pogromnacht 1938 waren es noch 86. Der Landrat von Limburg meldet am 10. Juli 1942 dem Regierungspräsidenten in Wiesbaden: „Die Kreise Limburg und Unterlahn sind seit dem 10. Mai des Jahres judenfrei.” Deutsche Wertarbeit: Erst 1998 sollte sich in Limburg an der Lahn wieder eine jüdische Gemeinde gründen. Erst 2008 erhielt sie eine Synagoge. Die alte war 1939 angezündet, die Ruine später niedergerissen worden.

Den Goldschmidts gelingt es, ihren Sonnenstrahl Liane zur Mutter in die Niederlande bringen zu lassen. Sie selbst quälen sich in Frankfurt durch die Schikanen, den Hass und den Alltag des Terrors. Vielleicht hat einer von den beiden den Bügel dabei, vielleicht hängt da der letzte gute Anzug von Hermann samt Binder drauf. Wartend, dass er für einen Bettelgang bei irgendeiner Dienststelle gebraucht wird. Der Staat hat das Vermögen der Eheleute Goldschmidt „gesichert“, er verdächtigt sie, eine Flucht vorzubereiten. Jacobine braucht Geld, um ihre teuren Medikamente zu bezahlen. Im guten Anzug zieht Hermann los, um Anträge zu stellen. Jahre geht das so.

Jacobine Goldschmidt entzieht sich am 5. September 1942 durch Freitod der amtlich angekündigten Deportation. Hermann Goldschmidt schafft es noch bis Theresienstadt. Hier wird er am 2. März 1943 ermordet. Sieben Wochen später, es ist der 54. Geburtstag Hitlers, treten die 14-jährige Liane Moses und ihre Mutter Grete im niederländischen Westerbork eine Reise an. Ihr Ziel: Sobibor im Osten. Vielleicht hatte Liane ihr schönstes Kleid mitgenommen. Und dafür auch den Bügel.

 

Sobibor
war eine Mordfabrik. Sie schafften es dort, 1.700 Menschen am Tag zu töten. Irgendwo lese ich: „Eine Selektion fand nicht statt.“ Direkt aus den Zügen ging es in den Tod. Hier, auf der „Himmelfahrtsstraße“ von Sobibor, endet die Geschichte des Kaufhauses Simon in Limburg an der Lahn endgültig. Und die Geschichte von Menschen, die vielleicht unseren Bügel, von dem wir nicht wissen, wie er zu uns gekommen ist, in der Hand gehabt haben könnten.

Die Tötungsfabrik gab es nur ein paar Monate. Sie war Teil der Aktion Reinhardt. In vier Vernichtungslagern wurden in den wenigen Monaten zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 die polnischen Juden ausgelöscht: Mehr als anderthalb Millionen Menschen. Es muss Zufall, vielleicht ein Versehen gewesen sein, dass es auch Transporte aus den Niederlanden gab. Das passt nicht in die Systematik der Verbrechen.

Nach Abschluss der Aktion wurden in Sobibor alle Spuren beseitigt, das Lager geschliffen. Aber es gibt amtliche Berichte: Hundertausende verwendbare Kleidungsstücke gehörten zur Bilanz der SS-Sonderkommandos, die Sobibor und die anderen Lager betrieben. Schon im Sommer 1942 prahlten die Mörder von rund 1.000 Waggons voller Textilien, darunter 300.000 neue Kleider.

 

Es könnte also sein,
dass Liane ihr schönstes Kleid mit nach Sobibor genommen und eben jenen, unseren, Bügel im Gepäck hatte, um es ordentlich aufzubewahren. Nach ihrer Ankunft kamen Kleid und Bügel in die „Kleiderkammer“ und wurden von dort wieder nach Deutschland geschickt. Oder anders: Es gibt Berichte, wonach die Mörder das eine oder andere Stück an ihre Lieben nach Hause geschickt haben. Geraubten Schmuck, Uhren, Geld und herausgebrochenes Zahngold, vielleicht auch Kleider.

Was also, wenn der Bügel über Sobibor zu uns gekommen ist? Oder über Theresienstadt? Oder über Auschwitz, wo der vier Jahre ältere Bruder von Liane ermordet wurde? Wer weiß schon, was unsere Familien so getan haben in jener Zeit, die Großväter, Großonkel, Großtanten, Großmütter … Vielleicht waren auch sie damals in Sobibor oder Theresienstadt oder Auschwitz. Haben sie aus einem dieser Orte den Bügel in den familiären Austausch gebracht? Trauen wir ihnen das zu? Warum wissen wir über all diese Großverwandten so wenig?

 

Die hunderttausenden Kleider
aus Sobibor, die Millionen aus den vielen Lagern wurden zentral verwaltet, sortiert, aufgelistet und wieder verteilt. Der Bügel könnte vielleicht über eine Kleiderausgabe des Deutschen Roten Kreuzes in die Kreisläufe unserer Familie gelangt sein. Vielleicht hat meine Mutter das Kleid von Liane samt Bügel an irgendeiner Versorgungsstelle zugeteilt bekommen. Oder die Mutter meiner Frau. Vom Alter her könnte das passen. Die Vorstellung ist fast tröstlich. Aber was sollten sie auf ihrer Flucht mit einem Bügel?

In Limburg an der Lahn hat das Stadtarchiv Interesse an dem Bügel. Ein Stadtmuseum sei im Entstehen, erfahre ich am Telefon. Man mache für Jugendliche auch Führungen entlang der Stolpersteine für die Goldschmidts, für Liane Moses und die Löwenbergs. In Yad Vashem sind die Namen von 61 jüdischen Limburgerinnen und Limburgern aufgelistet, die Opfer des Holocaust wurden. Jüngste Forschungen gehen von etwa 140 Ermordeten aus. Hinzu kommen noch etwa 50 weitere Menschen, denen aus anderen Gründen das Leben genommen wurde. Die Nachforschungen sind noch nicht abgeschlossen. Es sei also zu erwarten, sagt der Mann am Telefon, dass die Zahl der Opfer höher liegt. Und: Es gäbe nicht so viele Gegenstände, die an die Getöteten erinnern.

Der Bügel ist nun wieder in Limburg. Er hat seine Jahrzehnte währende Reise, deren Stationen wir nicht kennen, beendet. Wir sind froh, dass er im Stadtarchiv einen Platz haben wird. Aber wir haben Bedenken: Wenn die neuen Faschisten die Macht ergreifen, werden sie auch die Museen und Archive „säubern“. Wenn nicht ganz Limburg wieder judenfrei werden soll, dann doch wenigstens die historischen Sammlungen. Dann landet der Bügel womöglich doch noch im Feuer oder auf dem Müll. Vielleicht wäre er bei uns besser aufgehoben. Unseren Kleiderschrank werden die ja wohl nicht säubern können. Aber was wissen wir schon.

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