Jule Torhorst, Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin, lotet gemeinsam mit anderen Künstlerinnen aus, wie und in welcher Form darstellende Kunst im ländlichen Raum auf die Bühne gebracht werden kann. In ihren Projekten, Performances und Aktionen setzt sie sich mit verschiedenen Themen auseinander, mit denen die Menschen vor Ort konfrontiert sind. Unter anderem beobachtete sie in Brandenburg Feste, darunter auch dort, wo PROJEKTKOMMUNIKATION sie organisiert. Unsere Redakteurin Sarah Stoffers sprach mit Jule Torhorst über Dorffeste, Kunst und Kultur auf dem Land und warum solche Veranstaltungen auch immer politisch sind.

Frau Torhorst, gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern haben Sie 2022 das Projekt „Tausend Hektar Kunst“ ins Leben gerufen. Worum geht es bei diesem Projekt?
„Tausend Hektar Kunst“ ist ein Kollektiv von Künstlern. Wir haben uns mit dem Anliegen verbündet, darstellende Kunst in ländliche Räume zu bringen. Aktiv mit dabei sind Angela Hundsdorfer, sie macht Regie und Schauspiel. Carola Lehmann ist Performerin und Theatermacherin. Dann ist da noch Kathrin Ollroge. Sie kommt aus der Aktions- und Konzeptkunst. Und ich bin Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin.
Wie entstand das Projekt und wie sieht Ihre Arbeit vor Ort konkret aus?
Darstellende Kunst hat in ländlichen Räumen nicht so viel Platz. Es gibt in den kleinen Orten selten einen Theaterraum. Für uns war daher interessant, herauszufinden, welche Voraussetzungen darstellende Kunst braucht, um in der Fläche vorzukommen und angenommen zu werden. Wir haben uns daher für das Tingeln entschieden, wir fahren also direkt zu den Orten hin.
Zu unserer Arbeit gehört, dass wir zunächst vor Ort eine Veranstaltung umsetzen. Das kann beispielsweise etwas Festliches sein, oder eine Form der Bürger:innen-Beteiligung zum Thema des Stückes. Also ein Raum für Begegnung. Über das Fest kommen wir mit den Menschen in Kontakt und können uns mit ihnen über das von uns angesetzte Thema austauschen. Mit dem Interviewmaterial, den Eindrücken und Ideen, die wir gesammelt haben, gehen wir dann in den Probenraum und erarbeiten unser Stück. Für die Endproben kehren wir anschließend mit der Produktion an den Ort zurück und laden zur festlichen Premiere ein. Damit schaffen wir einen weiteren gesellschaftlichen Anlass, um sich zu treffen. Manchmal sind in den Theaterstücken noch zusätzlich Beteiligungsformate integriert.
"Es geht darum, etwas Besonderes abseits des normalen Alltags miteinander zu erleben."
Jule Torhorst
In einem Ihrer Projekte haben Sie gemeinsam mit Carola Lehmann und weiteren Künstler:innen das Thema „Festkultur im ländlichen Raum“ untersucht. Was ist auf dem Land anders als in der Stadt?
So weit wie ich es verstanden und selbst erlebt habe, geht es auf den Dorffesten vorrangig darum, sich zu treffen. Ich selbst komme aus dem ländlichen Raum in Bayern und habe in einem Städtchen mit damals 8.000 Leuten gewohnt. Alle umliegenden Kleinstdörfer haben dazu gehört. Dort war ich sehr häufig auf Festen aller Art. Egal ob im ländlichen Raum in Bayern oder in Brandenburg, denn da ist meiner Meinung nach zwischen Ost und West wenig Unterschied zu spüren, trifft man sich auf den Dorffesten. Oftmals sieht man sich im normalen Alltag nicht so häufig. Es geht darum, etwas Besonderes abseits des normalen Alltags miteinander zu erleben. Gemeinsam trinken, essen, quatschen, tanzen, feiern. Da gehört natürlich auch der Rausch dazu. Das ist, glaube ich, dem Menschen inne. Da ist es dann auch egal, ob du in der Stadt oder auf dem Land lebst.
Wie schwierig ist es, als Außenstehende dazu zu kommen und vielleicht ganz neue Formate anzubieten?
Dafür kann ich ein gutes Beispiel nennen: Wir wollten im Sommer im Landkreis Dahme-Spreewald im Rahmen von „Tausend Hektar Kunst“ etwas anbieten und wir waren viel zu spät dran. Die Organisator:innen hatten ihre Planungen schon komplett abgeschlossen und ein volles Programm. Die sagten dann klar: Also, da müssen sie schon früher kommen. Das hört sich zwar interessant an, aber so etwas müssen wir früher planen.
Man muss sich frühzeitig einbringen, sich persönlich vorstellen und dann miteinander gemeinsam entscheiden, was funktionieren könnte. Auch auf einem Dorffest kann man nicht einfach hinkommen und sagen: Wir spielen hier jetzt mal ein Theaterstück. Das muss man planen und das natürlich miteinander. Die Neugier auf ungewöhnliche Formate ist aber absolut vorhanden.

Die Organisation von solchen Veranstaltungen bedeutet gerade im ländlichen Raum ja immer viel ehrenamtliches Engagement. Haben die Menschen Lust, mit anzupacken?
Ja, durchaus. Jedes Dorf ist auch nur ein Abbild unserer Gesellschaft im Kleinen. Und in jeder Gesellschaft gibt es alle Positionen. Also Leute, die organisieren, die andere Leute mitreißen und Leute, die lieber konsumieren. Man muss die Personen finden, die Lust haben, sich aktiv zu beteiligen und die dann gut pflegen.
In Fahrenwalde zum Beispiel ist die ganze Familie des Bürgermeisters unglaublich engagiert. Und solche Leute gibt es überall. Vielleicht sind es nicht so viele. Jeder hat ja seine Familie, seinen Beruf und seinen Alltag. Wie viel Zeit und Energie bleiben da noch übrig? Da ist jeder Mensch verschieden.
Wie kann man diese Leute ihrer Ansicht nach unterstützen?
Ich könnte mir vorstellen, dass die Verantwortlichen des Kreises, der Stadt oder des Dorfes, etwa die Ortsvorsteher, den Leuten durchaus helfen können. Beispielsweise mit Partizipationsformen, bei denen sie den Rahmen stecken. Denn wenn der Rahmen klar ist, dann kann ich mich leichter beteiligen. Es braucht inhaltlich und zeitlich klar begrenzte Aufgaben. Wenn man sagt: Du organisierst jetzt das Fest! – dann ist das vielleicht ein bisschen zu viel. Wenn man aber fragt: Kannst du dich bitte um die Bestuhlung kümmern? – Das ist irgendwie leichter.
"Kultur ist eine Perle im System, die unseren Empathie-Muskel trainiert."
Jule Torhorst
Sie haben sich auch damit beschäftigt, wie Feste integrativ sein können und wen man damit ansprechen möchte. Wer besucht auf dem Land die Feste? Sind die Teilnehmer:innen genauso vielfältig wie in der Stadt?
Ich glaube, dass der ländliche Raum diverser ist, als man denkt und als es einige Menschen wahrhaben wollen. Man muss sich aber immer die Frage stellen, wer organisiert ein Fest? Das sind ja selten einzelne Persönlichkeiten, sondern Gruppen. Und wenn sich diese Gruppen dafür entscheiden, ein Fest zu machen, bei dem sich vielfältige Gruppierungen wirklich willkommen fühlen, dann wird es auch ein gemeinsames Fest für alle.
Dafür muss man aber auch mit den Menschen im Vorfeld reden und zuhören. Eine Bekannte von mir erzählte von einem Fest, das Eventleute aus der Stadt organisiert hatten, bei dem es keine Grillwurst gab, sondern irgendetwas Modernes, was dann keiner gegessen hat. Alle wollten ihre Wurst, kein neumodisches Chichi. Darum sollte man sich immer fragen: Will ich alles neu erfinden oder eine Brücke bauen?
Bieten Feste, aber auch Kultur allgemein, eine Möglichkeit, sich mit Problemen oder schwierigen Themen auseinanderzusetzen?
Ich glaube, Kultur ist ein wichtiger ergänzender Baustein. Sie ist eine Perle im System, die unseren Empathie-Muskel trainiert. Das hat man ja auch in der Corona-Zeit gemerkt. Wenn alles wegfällt, dann begegnen wir uns nicht mehr. Mit „Tausend Hektar Kunst“ machen wir hier Angebote. Wir bieten spielerische, beteiligungsbasierte Formate an, bei denen die Leute ins Spielen kommen können und vielleicht miteinander agieren, obwohl man sich vorher noch nicht einmal gegrüßt hat. Oder sie setzen sich mit einem ganz ungewohnten Thema auseinander, probieren neue Dinge aus.
Wir haben beispielsweise einmal performatives Dosenschießen gemacht, um die Aggressionen rauszulassen und sie nicht mit aufs Fest zu nehmen.
Oder analoges „Trau-dich-Tinder“. Wir haben ein Angebot im Kampf gegen Einsamkeit: Die Künstler:innen nehmen Sie in Empfang und knüpfen neue Bande für Sie und mit Ihnen. Wer hat noch nie miteinander gesprochen? Es werden Kontaktgutscheine ausgegeben und Handlungsanweisungen (z. B. zum gemeinsamen Spaziergang) verteilt – alles streng verpflichtend und mit Augenzwinkern.
Ich glaube, solche gemeinsamen Momente können einen total öffnen, so dass man miteinander in eine sanftere Art der Kommunikation tritt.

Was denken Sie, sind Feste auch politisch?
Alles ist politisch. Die Gesellschaft ist politisch, das Private ist politisch, wie Thomas Brasch so schön sagt. Auf der kleinsten Ebene ist auch ein Dorffest politisch, weil man zusammensitzt und miteinander redet. Und worüber redet man? Über Gott, über die Politik, über Probleme und den nervigen Nachbarn. Das sind alles politische Handlungen.
Aber auch auf einer anderen Ebene ist es politisch. Wer organisiert das Fest? Ist es eine Partei oder die Feuerwehr? Oder ist der Organisator ein Verein? Es ist tatsächlich wichtig, wer hier agiert. Den meisten Leuten ist es total egal, wer das Fest organisiert, Hauptsache es funktioniert. Aber die Veranstaltungen bekommen durch die Organisator:innen natürlich eine bestimmte Färbung. Denn wenn eine Partei ein Dorffest organisiert, und es vielleicht auch noch das einzige Fest im ganzen Jahr ist, dann bekommt das eine Bedeutung. Und gerade weil es politisch ist, sollte man sich damit auseinandersetzen und sich eben nicht davon fernhalten.
Daneben gibt es noch eine andere politische Ebene, nämlich die Gruppierungen, die sich auf den Festen präsentieren. Wie Institutionen, Vereine, die Feuerwehr oder eben Parteien, aber durchaus auch mal die Bundeswehr, die vor Ort Leute akquirieren will. Sie nutzen diese Feste selbstverständlich auch als Plattform.
"Ein Dorffest ist politisch, weil man zusammensitzt und miteinander redet."
Jule Torhorst
Sie haben auch untersucht, wie die Neue Rechte Feste im ländlichen Raum für ihre eigenen Zwecke nutzt und wie man sich vor dieser Vereinnahmung schützen kann. Was raten Sie? Wie kann man sich dagegen wehren und wie sollte man solche Themen ansprechen?
Wenn ein Fest von Rechten unterwandert ist, stellt sich die Frage, wer organisiert es? Sind es die Rechten selbst oder sind es andere Leute? Hat man irgendeine Art von Hausrecht, kann man vorher klare Regeln aufstellen und so Sicherheit garantieren? Das Kleingedruckte halt. Und wenn es doch aus dem Ruder läuft, kann man auch Platzverbote erteilen.
Dann ist da noch die persönliche Ebene. Bei unserer Arbeit mit „Tausend Hektar Kunst“ sitzen wir auch mal am Lagerfeuer, reden mit den Menschen und trinken Schnaps mit ihnen. Durch die Theatervorstellung teilen wir ein gemeinsames Erlebnis und können uns auf der Beziehungsebene begegnen. Wenn Leute Zutrauen gefunden haben, reden sie, wie ihnen gerade der Schnabel gewachsen ist. Und dann hat man auf der neugeknüpften Ebene die Möglichkeit zu sagen: Du, das reicht jetzt! Ich sehe das völlig anders als du! Dann kann man seine eigene Meinung sagen. Und dann können auch zwei Meinungen, zwei Polaritäten nebeneinanderstehen. Diese Diskurskultur bekommt dann Raum. Und vielleicht gelingt es dabei auch, den anderen zum Nachdenken anzuregen.
Aber die Begegnung, die Konfrontation ist immer auf Augenhöhe, oder?
Ja, natürlich immer radikal höflich bleiben. Immer auf Augenhöhe, die ganze Zeit. Der Mensch gegenüber wird immer ernst genommen. So wie ich ja auch ernst genommen werden möchte.

Ist das ein Thema, also rechte Tendenzen, dem Sie bei Ihrer Arbeit oft begegnen?
Ich möchte unbedingt betonen: Dorffeste werden selten von Rechten organisiert. Die meisten Menschen haben kein geschlossenes rechtes Weltbild, auch nicht in den Dörfern im Osten.
Außerdem kann ich die Enttäuschung über die Großparteien verstehen. Denn ich habe den Wahlkampf zur Bundestagswahl im Spreewald mitbekommen. Es war niemand von den anderen Parteien irgendwo sichtbar. Nur die AfD ist hier präsent. Und dann wundern sich die demokratischen Parteien über das Ergebnis. Das macht mich ehrlich gesagt fassungslos.
Diese persönlichen Begegnungen und Gespräche – dafür sind gerade auch die Dorffeste da. Sie sollten genutzt werden, um sich in einem lockeren Gespräch auszutauschen. Das machen die meisten Politiker und Politikerinnen leider zu selten. Einige meinen wohl, dass es sich nicht lohnt, bei einem Dorffest mit nur 300 Leuten vorbeizuschauen. Aber dann bekommen sie bei der nächsten Wahl auch nur zehn Stimmen.
"Der Mensch gegenüber wird immer ernst genommen. So wie ich ja auch ernst genommen werden möchte."
Jule Torhorst
Was haben Sie als nächstes vor? Worum geht es in ihrem neuen Projekt?
Wir werden rund um Torgelow in Mecklenburg-Vorpommern ein Projekt zum Thema Wasser umsetzen. Die Aufführungen sind am 12. Dezember in Greifwald in der STRAZE geplant. Der Titel lautet „Das Blaue Gold“. Im September besuchen wir mit Ausschnitten aus dem Stück vier Dörfer. Die Termine und Orte finden Sie auf unserer Homepage.
Wir sind total gespannt auf die Einwohner:innen und was deren Verhältnis zu Wasser ist. Aus diesem Input speisen wir unsere Arbeit. Denn deren Perspektive ist ja eine andere als die rein künstlerische, mit der wir an das Thema rangehen. Wir werden sicher ein partizipatives Format umsetzen, in dem sich das Publikum spielerisch mit Wasser beschäftigen kann.
Die in Berlin lebende Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin Jule Torhorst (*1977) kreiert künstlerisch-politische Formate am besonderen Ort, verbindet darstellende Kunst mit gesellschaftlich relevanten Themen, leitet Stückentwicklungen mit Laien und Profis und steht selbst in internationalen Produktionen auf der Bühne. Gemeinsam mit der Regisseurin und Schauspielerin Angela Hundsdorfer, Carola Lehmann, Performerin und Theatermacherin, sowie der Konzeptkünstlerin Kathrin Ollroge hat Sie 2022 das Künstlerkollektiv „Tausend Hektar Kunst“ initiiert. Sie bringen darstellende Kunst in Dörfer und kleine Städte. Dabei sind bereits zahlreiche spannende Projekte und Performances entstanden. Etwa „Keine halben Sachen – jetzt geht’s ans Eingemachte“, bei denen die Künstlerinnen Menschen in Halbe nach ihren Erinnerungen an ihren Wohnort fragten und diese in einem Theaterstück auf die Bühne brachten. Oder bei der Aktion „Drei Engel für Vetschau“ in Zusammenarbeit mit der Spreeakademie im Landkreis Oberspreewald-Lausitz. Hier befragten sie als Engel verkleidet auf dem Weihnachtsmarkt die Einwohner nach ihren Wünschen und Ideen für ihre Stadt.