Unser Kollege Julius Sonntag hat die Adventszeit genutzt, um sich zu besinnen
Dezember 2019: Ich laufe durch den blauen Lichterglanz, der Wind weht eisig, meine Hände sind wie gelähmt vor Kälte. Bald sind sie so blau wie die Lichter, die um mich kreisen.
Ich versuche, mich zu besinnen. Der Advent ist schließlich die Zeit der Besinnlichkeit. Doch ich finde keinen Halt in meinem Kopf. Die Gedanken rasen hin und her und lassen sich nicht fassen. Was ich suche, weiß ich nicht.
Die Fragen drehen sich im Kreis und verheddern sich. Bin ich an der richtigen Stelle? Zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Wo möchte ich hin? Finde ich rechtzeitig einen Ausweg, wenn die Räume enger werden? Kann ich nochmal die Richtung wechseln oder sind die Würfel schon gefallen? Bin ich zuversichtlich genug, um an die Zukunft zu glauben?
Am Literaturladen Wist bleibe ich stehen. Bücher spenden Trost, Bücher haben mich oft gerettet. Ich trete ein und lasse den Blick über die deckenhohen Regale schweifen. All die konservierten Geschichten und Gedanken sehen mich an. Die neuesten Ausgaben sind liebevoll auf den Auslagen ausgebreitet. Dazwischen liegen auch Klassiker. Ich greife ein Buch aus einem der Stapel heraus: Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. 1997. Dort, wo ich das Buch aufschlage, lese ich diese Sätze:
„Es wird keine bessere Zeit kommen. Sie ist immer schon da. Und kann nur ein Leben lang versäumt und unentdeckt bleiben.“
Die Sätze treffen mich ins Mark. Ja, vielleicht ist alles schon da, und ich habe es nur nicht bemerkt. Vielleicht hatte ich einfach immer den falschen Blickwinkel. Nicht falsch gelebt, nur falsch bewertet. Ich taumle aus dem Laden, die drei Sätze nehme ich mit.
In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, die Kälte spüre ich nicht mehr. Wie in Trance laufe ich durch die Stadt, vorbei an den Glühweinständen und Wurstbuden, an den Menschentrauben mit Einkaufstaschen voller Weihnachtsgeschenke. Wohin ich laufe, weiß ich nicht. Aber ist nicht der Weg das Ziel?
Es beginnt zu schneien. Die Flocken legen sich lautlos auf die Menschen und Dinge, der Schnee glitzert im blauen Licht. Ich sortiere meine Gedanken. Plötzlich bin ich glücklich, erfüllt von diesem Gedanken, der mich tröstet. Niemals werde ich ans Ziel kommen, weil es kein Ziel gibt. Was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Aber das macht mir jetzt keine Angst mehr.
Dezember 2022: Seit damals sind drei Jahre vergangen. Die Welt ist nicht wiederzuerkennen – und doch hat man das Gefühl, als hätte sich gar nichts verändert. Als liefe alles immer so weiter. Nur schneller. Die Krisen kumulieren, jeden Tag erwartet man neue Hiobsbotschaften. Die Welt rast in einem ungeheuren Tempo weiter Richtung Abgrund. Und wir rennen mit, um mit der Gegenwart Schritt halten zu können, um unsere Zukunft einzuholen, die es vielleicht gar nicht mehr gibt.
Wie es mir geht? Mir geht es so gut, wie schon lange nicht mehr. Fast schäme ich mich, dies zu bekennen, angesichts all des Schrecklichen, das grad passiert, hier und in der Welt. Ich sorge mich auch nicht mehr um die Zukunft, seit mir klar geworden ist, dass sie mich um die Gegenwart bringt.
Ich laufe über den Weihnachtsmarkt. Zwei Jahre lang hat es keinen blauen Lichterglanz mehr in der Innenstadt gegeben. Es hat sich nicht viel verändert seither, aber es gibt jetzt weniger Buden und dadurch einen größeren Abstand zwischen den Ständen; so als würden auch sie sich vor einer Ansteckung fürchten.
Manchmal vergehen Wochen, ohne dass mir die Sätze von damals in den Sinn kommen, doch dann, ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung, sind sie wieder da: „Es wird keine bessere Zeit kommen. Sie ist immer schon da. Und kann nur ein Leben lang versäumt und unentdeckt bleiben.“ Wie trostlos und zugleich tröstlich diese Sätze sind, denke ich wieder. Ist das nicht ein Appell? Ein Appell an unseren unsinnigen Glauben, dass das Beste immer vor uns liegt? An unsere Überzeugung, dass das, was wir haben, nicht ausreicht?
Ich denke noch immer nach über die Sätze von Botho Strauß. Über die Fehler des Kopisten. Seine Gedanken begleiten seither mein Leben, sind Trost und Hoffnungslosigkeit, Frage und Antwort zugleich. Dabei habe ich kaum etwas von Botho Strauß gelesen. Während meines Literaturstudiums hatte ich es mir immer vorgenommen. Ich glaube, „Der junge Mann“ stand auf einer Liste mit Büchern, die man den Studenten zur Lektüre empfohlen hat. Doch dann kam wieder das Leben dazwischen. Die Nacht, und die Lichter der Großstadt.
Strauß lebt seit Jahrzehnten zurückgezogen in der Uckermark. Wahrscheinlich kommt man nur auf solche Gedanken, wenn vor einem nichts als die Weite der brandenburgischen Felder liegt. Wenn die Stille nur hin und wieder durch einen aufgeschreckten Vogel oder ein davonlaufendes Reh unterbrochen wird. Keine Ablenkung, totale Gegenwart.
2017 habe ich Simon kennengelernt, den Sohn von Botho Strauß. Damals war ich Volontär in Lübeck. Simons ersten Roman „Sieben Nächte“ habe ich für die Lesereihe „Debüt im Buddenbrookhaus“ gelesen, für die ich als Juror tätig war. Ich war 28 Jahre alt und auf dem besten Weg, mein Leben zu befestigen, ihm eine bürgerliche Basis zu verschaffen. „Sieben Nächte“ hat mir für einen Moment den Boden unter den Füßen weggezogen. S., der Protagonist des Buches, ein junger Mann wie ich, schließt einen Pakt: sieben Nächte, sieben Todsünden. Und nach jeder Nacht muss er schreiben.
Ich habe das Buch wie im Rausch gelesen. Was mich interessierte, waren nicht die Todsünden, sondern die Gedanken dieses jungen Mannes. Seine Wut, seine Angst, seine Hoffnung, sein Wunsch nach Intensität. Es war seine Sprache, die mich nicht mehr losließ. Simon Strauß sei die „Stimme“ meiner Generation, hieß es schnell im Feuilleton. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber in jener Phase meines Lebens hatte ich genau dieses Gefühl: Da findet jemand die richtigen Worte für das, was ich nur diffus fühlte.
„Sieben Nächte“ hat etwas bewegt in mir. Ich bin nicht mehr der „junge Mann“ von damals, mein Leben hat sich seither verändert; aber die Fragen, die das Buch stellt, hallen noch immer in mir nach. Ich glaube, letztlich geht es beiden, Botho Strauß und seinem Sohn Simon, um dasselbe. Das Buch des Sohnes ist wilder, nicht so abgeklärt, wie die Sätze seines Vaters. Wenn man es liest, kann man glauben, dass das Glück nur im freien Fall zu finden ist, und dass wir vergeblich danach suchen in den ausgepolsterten Ecken unserer gesicherten Existenz.
Die Brandenburger Straße ist voller Menschen, die sich in geschäftiger Vorweihnachtsstimmung zwischen den Buden bewegen. Ich frage mich, was sie wohl gerade beschäftigt. Ob vielleicht noch jemand anderes in diesem Moment an die Fehler des Kopisten denkt.
Wieder nähere ich mich dem Literaturladen Wist. Carsten Wist, Inhaber und Bücherbesessener, hat mal in einem Interview gesagt, dass er rund 100 Seiten pro Tag lese. Das schaffen sicherlich nur die wenigsten Menschen. Diese Menge würde sogar mich überfordern. Und manchmal reichen ja schon drei Sätze, um nachhaltig beschäftigt zu sein.
„Sieben Nächte“ hat Carsten Wist auch begeistert, so sehr, dass er dem jungen Autoren 2017 den hauseigenen Literaturpreis „Der kleine Hei“ verliehen hat – im selben Jahr, als meine Jurykollegen und ich Simon Strauß im Lübecker Rathaus den „Debütpreis des Buddenbrookhauses“ überreichten.
So schließt sich der Kreis. Hier laufen alle Linien zusammen, überlagern sich Vergangenheit und Gegenwart, mein altes und mein neues Ich, der Vater, der Sohn und der Geist der Adventszeit. Während ich zwischen den Bücherregalen stehe und über die schicksalhaften Verknüpfungen nachsinne, muss ich an einen Satz von Friedrich Hebbel denken, den dieser in einem seiner Tagebücher festgehalten hat: „Den Augenblick immer als den höchsten Brennpunkt der Existenz […] ansehen und genießen: das würde Leben heißen!“
Ja, das würde Leben heißen. Hier stehe ich also. In diesem Moment. Von draußen scheint blaues Licht durchs Schaufenster, das sich auf den Folien der verpackten Bücher spiegelt.
Es gibt keinen besseren Ort. Und keine bessere Zeit.